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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Großraum Paris schienen hierherbeordert worden zu sein. Zu ihren Füßen türmten sich Abfälle, Papier und Kaugummis, mitgeführt von dem Wasser, das bis hierher floss und dann unter dem Schleusentor verschwand.
    Die Tür wurde entriegelt. Sie stiegen über den Abfall hinweg und nahmen eine Betontreppe. Jeanne stützte sich noch immer auf die Schulter Taines. An der Decke war ein Windlicht angebracht. Trotzdem herrschte eine nahezu undurchdringliche Finsternis.
    »Bis zum Boden sind es fünfzehn Meter. Er hat sie auf dem Rücken tragen müssen ...«
    Der ekelerregende Gestank von Abwässern schlug ihnen entgegen. Auch der Geruch von Öl und Benzin hing in der Luft. Ebenso der scharfe, beißende Gestank von gegrilltem Schweinefleisch.
    »Was ist das für ein Geruch?«, fragte Jeanne.
    Der Hauptmann drehte sich irritiert zu ihr um. Seit sie losgegangen waren, lag ihm eine Frage auf der Zunge. Zwei Ermittlungsrichter für einen Fall, das war einer zu viel ...
    »Der Mörder«, antwortete er, an François Taine gerichtet, »hat einige Teile des Körpers geröstet. Aber es gibt noch etwas anderes.«
    »Was?«
    »Wir haben merkwürdige Rückstände gefunden. Nach Ansicht der Techniker könnte es sich um Talg handeln.«
    »Was meinen Sie mit ›Talg‹?«
    »Tierisches Fett. Anscheinend brennt Talg gut und lange. Der Mörder hat das als Lichtquelle genutzt. Die Techniker werden es Ihnen erklären. Da lang.«
    Eine weitere Tür. Einige Stufen. Dann der Schock. Ein fensterloser, etwa zwei- bis dreihundert Quadratmeter großer Raum mit einer schrägen Decke. Schwarze Betonwände mit Feuchtigkeitsschäden. Der Boden, der von Wasser glänzte. Eine echte Höhle aus neuerer Zeit – der Ära von Beton und Benzin. Es gab die Eisenzeit, die Bronzezeit und nun das Zeitalter des Erdöls.
    Die Scheinwerfer des Erkennungsdienstes zeichneten Strahlenkränze in die Pfützen. Die Techniker kamen und gingen, Masken auf dem Gesicht. Sie warfen nacheinander einen kurzen Blick auf die Neuankömmlinge, ohne ihre Aktivitäten zu unterbrechen.
    Jeanne wunderte sich einmal mehr über die widersprüchlichen Empfindungen, die Tatorte in ihr hervorriefen. Einerseits spürte sie ganz deutlich die Gewalt, doch andererseits, stärker noch, die Ruhe, die Erleichterung – des Mörders. Dieses Blut, diese Leiche, diese zerfetzten Körperteile waren der Preis für seinen inneren Frieden. Der Mörder hatte sich hier gesättigt, gestillt, beruhigt ...
    »Können wir die Leiche sehen?«, fragte Taine.
    Der Hauptmann klemmte seine Taschenlampe unter die Achsel und streifte Chirurgenhandschuhe über. Vorsichtig hob er die Plane an, die das Opfer bedeckte. Die elektrische Lampe unter seiner Achsel traf die Leiche wie zufällig. Jeanne prallte zurück. Ihre Knie wurden weich. Um nicht zu stürzen, rief sie sich in Erinnerung, dass sie Richterin war, ein jahrelanges Studium hinter sich hatte und unerschütterlich an ihre Berufung glaubte. Denken wie ein Richter und nur wie ein Richter.
    Es gab mindestens fünf Leichenteile.
    Aus dem Oberkörper mit geöffnetem Bauch ragten an den Schultern und unterhalb des Beckens weißliche Knochen heraus. Die vier Gliedmaßen waren abgerissen worden. Der Kopf der Frau oder dessen, was von ihr übrig war, war nach hinten gebeugt und unsichtbar. Ihre Haare schwammen in einer Pfütze.
    Ungeachtet des Entsetzens, ein finsterer Schauer, der sie durchzuckte, fielen Jeanne mehrere Dinge auf. Die weiße Haut. Die kräftige Statur. Die Schultern und die Hüften waren gerundet wie geschliffene Felsen. Jeanne musste an die Skulpturen von Jean Arp denken. Sanfte, weiße Formen ohne Arme und Beine, die allein durch die Reinheit ihrer Linie die Hand zum Streicheln verlockten.
    Jeanne erspähte die in der Finsternis verstreuten Arme und Beine. Halb aufgezehrt. Teilweise verbrannt. Weiter weg, an der Mauer, ein graues Bündel verklebter Eingeweide, von schmutzigem Wasser umspült.
    Plötzlich bemerkte sie das Schweigen, das sie umgab. Alle waren in gleicher Weise verstört: Taine, Reischenbach, Leroux, Taines Assistentin ... Sie näherte sich, während der Hauptmann seine Taschenlampe zögernd auf das grauenhafte Tableau richtete. Sie sah die Wunde am Hals, der von einem Ohr bis zum anderen aufgeschlitzt war.
    »Würden Sie das Gesicht beleuchten?«
    Der Hauptmann rührte sich nicht. Jeanne nahm ihm die Lampe aus der Hand und richtete sie auf das Gesicht. Die Muskeln und die Gesichtsknochen bildeten ein chaotisches Gewirr. Ein bläulicher

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