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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Echt verrückt.«
    »Die Abdrücke wirken recht zierlich«, bemerkte Jeanne. »Könnten sie von einer Frau stammen?«
    »Nein, glaube ich nicht. Aber die DNA-Analyse wird uns eine eindeutige Antwort geben. Seine Finger sind zu einer Faust geballt. Er stützt sich mit geballten Fäusten auf dem Boden ab. Mir ist noch etwas anderes aufgefallen: Wenn man die Achse der Hände mit der Achse der Füße vergleicht, stellt man fest, dass er sich fortbewegt, indem er die Hände nach innen dreht.
    »Leidet er an einer körperlichen Behinderung?«, fragte Taine.
    »Vielleicht. Oder er ahmt bestimmte Affen nach. Beides ist möglich.«
    Jeanne verfolgte ihre Idee weiter:
    »Kann man aus den Fuß- und Handabrücken auf seine Statur schließen?«
    »Mehr oder weniger. Der Typ hat Schuhgröße 40, aber kleine Hände. Angesichts der Heldentaten, die er an der Leiche vollbracht hat, muss er eher kräftig sein. Gleichzeitig deutet die Tiefe der Abdrücke auf ein geringes Körpergewicht hin.«
    Taine deutete auf die ominösen Inschriften an den Wänden.
    »Und das?«, fragte er Reischenbach. »Hast du da Experten drauf angesetzt?«
    »Ja, mehrere«, antwortete Messaoud an seiner Stelle. »Einen Anthropologen, einen Archäologen und einen Kryptologen. Bislang habe ich noch keine Ergebnisse.«
    Der Gendarmerie-Hauptmann näherte sich, klopfte leicht auf eine Uhr und sagte zu Taine:
    »Können wir hinaufgehen, Herr Richter? Der Geschäftsführer des Labors erwartet uns in seinem Büro.«

 
    11
    »Meine Damen und Herren, was kann ich für Sie tun?«
    Jeanne und Taine wechselten einen Blick. In dieser Situation wirkte die Frage ziemlich unpassend. Bernard Pavois saß hinter seinem Schreibtisch, ein Hüne von marmorner Regungslosigkeit. Er war etwa ein Meter neunzig groß und wog wohl um die hundertzwanzig Kilo. Seine Schultern ragten wie ein Block vor dem großen Glasfenster auf. Ein Fünfzigjähriger mit kantigem Gesicht und Hornbrille sowie dichtem, gewelltem Haar, einst blond und heute grau. Seine Miene wirkte gelassen, aber die goldbraunen Augen hinter den Brillengläsern erinnerten an Eiswürfel in einem Glas Whiskey. Ein Gesicht on the rocks.
    »Bitte stellen Sie Ihre Fragen!«
    Die beiden Richter, der Polizist und Taines Assistentin hatten vor dem massiven Schreibtisch Platz genommen.
    Taine schlug die Beine übereinander und erwiderte im gleichen Ton:
    »Erzählen Sie uns von dem Opfer.«
    Pavois erging sich in einer klassischen Lobrede. »Eine einzigartige Mitarbeiterin. Eine charmante Frau. Unvorstellbar, dass ihr irgendjemand etwas Böses antun wollte.« in diesem Stil ging es weiter. Ob er selbst auch nur ein Wort von diesen Phrasen glaubte? Jeanne hörte kaum hin. Sie versuchte, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen, noch immer geblendet von den Lampen im Labor.
    Nachdem sie aus dem finsterem Parkhaus emporgestiegen waren, hatten sie makellos weiße Säle durchquert. Sterile Räume. Räume mit Druckausgleich. Büros, die mit gläsernen Trennwänden unterteilt waren. Sie waren Dutzenden von Technikern in weißen Arbeitskitteln begegnet. Ein wahrer Ameisenhaufen. »20 000 Amniozentesen jährlich«, hatte die stellvertretende Direktorin, die sie führte, gesagt.
    Aber gerade das hatte Jeanne am meisten verwirrt. In den Fläschchen, den Zentrifugen und unter den sterilen Abzugshauben befand sich überall Fruchtwasser – Wasser der Geburt, der Unschuld ... Nach dem, was sie in den Untergeschossen gesehen hatten, war dies so, als wären sie direkt aus der Hölle ins Paradies gekommen, vom Tod ins Leben.
    »Zwei Richter für einen Fall«, bemerkte Pavois, »das ist eher ungewöhnlich, oder? Eine neue Maßnahme Sarkozys?«
    »Jeanne Korowa begleitet mich als Beraterin«, entgegnete Taine, ohne die Ruhe zu verlieren.
    »Beraterin wofür?«
    Jeanne ergriff das Wort, die Frage ignorierend:
    »Was genau arbeitete Nelly Barjac? War sie Laborantin?«
    Pavois zog die Brauen hoch. Er hatte ein Doppelkinn, einen echten Pelikankropf, der ihm ein noch unerschütterlicheres Aussehen gab.
    »Keineswegs. Sie war eine brillante Zytogenetikerin. Hochbegabt.«
    »Erstellte sie Karyogramme?«
    »Nicht nur. Abends arbeitete sie auch an einem molekulargenetischen Programm.«
    »Was ist der Unterschied?«
    »Zytogenetiker arbeiten an Zellen. Die Molekulargenetiker erforschen Prozesse, die auf einer noch kleineren Skala ablaufen, derjenigen der DNA.«
    Angesichts der ratlosen Gesichter seiner Gesprächspartner seufzte der Geschäftsführer und fügte

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