Im Wald der stummen Schreie
erklärend hinzu:
»Jede Zelle enthält Chromosomen. Chromosomen sind Fäden, die Spiralfedern gleichen, und bestehen ihrerseits aus Genen. Die molekulare Genetik untersucht diese DNA-Sequenzen. Eine Welt, die auf einer viel kleineren Größenordnung angesiedelt ist.«
»Haben Sie denn entsprechendes Untersuchungsmaterial?«
»Ja, im zweiten Geschoss, aber das ist nicht unser Spezialgebiet. Unsere tägliche Arbeit ist die Erstellung von Karyogrammen, um Anomalien an den Chromosomenpaaren festzustellen.«
»Sie sprachen von einem Programm«, bemerkte Jeanne. »Woran genau arbeitete Nelly? Ich meine: abends?«
»Sie schrieb eine Dissertation über das Erbgut der Völker Lateinamerikas. Sie erhielt Blutproben von da und dort. Typisierte sie. Verglich sie. Ich weiß nicht genau, was sie da getrieben hat. Sie sprach kaum darüber. Es war eine Art Gefälligkeit unsererseits: Sie durfte unser Material für ihr persönliches Forschungsprojekt nutzen.«
Pavois beugte sich über den Schreibtisch. Ein Buddha, der auf seinem Sockel schwankte.
»Weshalb diese Fragen? Stehen sie in irgendeiner Beziehung zur Tat?«
»Wir können nicht ausschließen, dass es einen Zusammenhang zwischen diesen Arbeiten und dem Mordmotiv gibt«, er -klärte Taine.
»Sie scherzen wohl?«
Der Richter antwortete, zweifellos um den Forscher kooperationswillig zu stimmen:
»Wir haben bereits einen anderen Mord dieses Typs. Eine Krankenschwester, die in einem Zentrum für entwicklungsgestörte Kinder arbeitete. Vielleicht besteht ein Zusammenhang zwischen den Behinderten, die in diesem Institut behandelt werden, und dem, was Sie in Ihrem Labor tun.«
»Um was für Behinderungen handelt es sich? Woran leiden diese Kinder?«
Taine warf Reischenbach einen Blick zu – die Frage nervte ihn.
»Wir wissen es nicht«, räumte er ein, »jedenfalls noch nicht. Welche Anomalien entdecken Sie mit Hilfe der Karyogramme?«
»Hauptsächlich Trisomie 21. Wir nennen sie so, weil dieser Defekt das Chromosomenpaar mit der Nummer 21 betrifft. Wir identifizieren auch andere Anomalien, etwa Trisomie 13, die mit psychomotorischen Entwicklungsstörungen und körperlichen Fehlbildungen verbunden ist. Oder auch sogenannte Deletionen – also den Verlust bestimmter Abschnitte auf Chromosomen. Ein Defekt, der schwerwiegende Folgen für die Entwicklung des Kindes hat.«
»Sind diese Anomalien selten?«
»Es kommt darauf an, was Sie unter ›selten‹ verstehen. Wir haben täglich damit zu tun. Oder fast täglich.«
»Können Sie bestimmte Psychosen auslösen?«
»Ich verstehe Ihre Frage nicht.«
»Sie haben von Trisomie gesprochen. Kann die Analyse des Karyotyps bestimmte Krankheiten wie etwa Schizophrenie nachweisen?«
»Nein. Sofern diese Erkrankungen eine genetische Ursache haben, müsste man zunächst einmal das spezifische Gen identifizieren und die DNA analysieren. So weit sind wir aber noch nicht. Worauf wollen Sie hinaus? Halten Sie den Mörder für einen Psychopathen, dessen genetische Anomalie vor langer Zeit in unserem Labor nachgewiesen wurde?«
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit: Eltern, die sich rächen wollen.«
»Wofür?«
»Für ein anomales Ergebnis. Für ein Kind, das mit einer Fehlbildung zur Welt kam.«
»Das ist absurd«, erklärte Pavois.
»Wenn Sie wüssten, mit was für Motiven wir in unserem Beruf konfrontiert werden.«
»Ich meine, das wäre wirklich absurd. Wenn ein Karyogramm eine Anomalie zeigt, gibt es keinen Grund, uns für dieses Problem verantwortlich zu machen. Aber vor allem werden diese Untersuchungen ja gerade deshalb durchgeführt, um die Geburt eines behinderten Kindes zu verhindern. Die Amniozentese wird rechtzeitig vor der Geburt vorgenommen, um gegebenenfalls einen Schwangerschaftsabbruch veranlassen zu können.«
»Und wenn Ihnen ein Fehler unterlaufen wäre? Wenn Sie die Anomalie nicht entdeckt hätten und das Kind behindert zur Welt gekommen wäre?«
Pavois wirkte konsterniert. Trotzdem umspielte noch immer ein leises Lächeln seine Lippen.
»Nein«, erwiderte er. »Unsere Verfahren sind zu hundert Prozent zuverlässig.«
»Sie haben noch nie Proben verwechselt oder einen Softwarefehler gehabt?«
»Sie haben keine Ahnung, unter welchen Bedingungen wir arbeiten. Wir befolgen drastische Sicherheitsmaßnahmen. Wir werden ständig von den Behörden überwacht. Ich habe noch nie von einem Problem in unserer Branche gehört. Weder hier noch in einem anderen Land.«
Bernard Pavois hatte mit ruhiger Stimme
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