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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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nächsten Tag überschattet.
    Der Mann erinnerte sich jetzt an ein weiteres Detail. Während seines Studiums hatte er im Rahmen eines theaterwissenschaftlichen Seminars eine Hausarbeit über diese Schlussszene bei Tschechow geschrieben. Am Ende dieser Arbeit wies er darauf hin, dass für die Psychoanalyse ein Zug in einem Traum den Tod symbolisiere. Er erinnerte sich noch an etwas anderes: Nachdem er damals diese Hausarbeit geschrieben hatte, war er in eine Depression gefallen. Zwei Jahre lang war er nicht mehr an die Universität gegangen. Als hätten diese wenigen Zeilen über das russische Theaterstück und besonders über die Ankunft des Zuges eine seelische Krise ausgelöst und dem Tod einen beherrschenden Einfluss auf seinen Geist eingeräumt.
    Dank dieses Traumes und der Therapie fiel ihm nun ein weiterer Umstand ein. Ein Ereignis, das er nie mit alledem in Verbindung gebracht hatte. In dieser Zeit hatte sich seine Mutter, die ihn allein großgezogen hatte, wiederverheiratet. Sie war damals zu ihrem neuen Lebensgefährten gezogen und hatte ihn in ihrer Wohnung allein zurückgelassen. So war der Zug – der Tod – nicht nur in seiner Hausarbeit über Tschechow aufgetaucht. Er war auch in der Wirklichkeit erschienen: Der Zug hatte seine Mutter mit sich fortgenommen und ihn tief in seinem eigenen Unterbewusstsein getötet ...
    Jeanne lauschte wie gebannt, während sie in die Dunkelheit starrte. Sie hatte Zeit und Raum vergessen. Mit aufgesetztem Kopfhörer trieb sie durch die Finsternis und ließ sich von diesen Stimmen durchdringen und berauschen, stets geleitet von der sanften und ruhigen Stimme Férauds.
    Plötzlich wurde sie unruhig. Blickte auf ihre Uhr. Zwei Uhr nachts. Sie musste schlafen, damit sie morgens auf dem Damm war. Sie hatte bereits den gestrigen Tag im Büro verplempert.
    Hastig hörte sie bei den Patienten vom späten Nachmittag hinein. Einen letzten für unterwegs . Sie stoppte bei dem Patienten um 18.00 Uhr.
    »Legen Sie sich nicht hin?«
    »Nein.«
    »Dann setzen Sie sich. Machen Sie es sich bequem?«
    »Nein. Sie wissen ganz genau, dass ich nicht wegen mir hier bin.«
    Der Neuankömmling sprach mit großer Entschiedenheit. Er hatte eine harte und tiefe Stimme und einen spanischen Akzent.
    »Gibt es was Neues?«
    Férauds Stimme hatte sich verändert. Er wirkte angespannt, nervös.
    »Was Neues? Seine Anfälle werden immer heftiger.«
    »Was macht er während dieser Anfälle?«
    »Ich weiß es nicht. Er verschwindet. Aber das ist gefährlich, da bin ich sicher.«
    »Ich muss ihn sehen.«
    »Unmöglich.«
    »Ich kann keine Diagnose stellen, ohne mit ihm zu sprechen«, sagte Féraud. »Ich kann ihn nicht auf dem Umweg über Sie behandeln.«
    »Das würde nichts bringen. Sie würden nichts sehen und nichts spüren.«
    »Überlassen Sie es mir, das zu beurteilen.«
    Féraud hatte diese Worte mit einer beispiellosen Heftigkeit hervorgestoßen. Er wirkte fast aggressiv. Aber der Spanier schien sich nicht einschüchtern zu lassen.
    »Das Böse sitzt in seinem Innern, verstehen Sie? Es ist verborgen, unsichtbar.«
    »Ich verbringe meine Tage damit, verborgene Geheimnisse auszugraben. Geheimnisse, von denen selbst diejenigen, die sie in sich tragen, nichts wissen.«
    »Bei meinem Sohn ist das anders.«
    »Anders inwiefern?«
    »Ich habe es Ihnen schon erklärt. Gefährlich ist nicht mein Sohn, sondern der Andere. «
    »Er leidet also an einer Persönlichkeitsspaltung?«
    »Nein. Ein anderer Mensch lebt in seinem Innern. Vielmehr ein Kind. Ein Kind, das seine Geschichte, seine Entwicklung und seine Ansprüche hat. Ein Kind, das im Innern meines Sohnes herangewachsen ist. Wie ein Tumor.«
    »Sprechen Sie von dem Kind, das Ihr eigener Sohn gewesen ist?«
    Die spanische Stimme klang jetzt resigniert:
    »Sie wissen, dass ich damals nicht da war ...«
    »Was fürchten Sie jetzt?«
    »Dass sich diese Persönlichkeit manifestiert.«
    »Sich in welchem Sinne manifestiert?«
    »Ich weiß nicht. Aber es ist gefährlich. Madre de Dios! «
    »Sind Sie sicher, was diese Anfälle betrifft?«
    Man hörte Schritte. Der Spanier wich zurück, zweifellos zur Tür.
    »Ich muss los. Ich werde Ihnen bei der nächsten Sitzung mehr erzählen.«
    »Sind Sie sicher?«
    »Ich muss mit diesen Informationen zurechtkommen. All das sind Teile eines Ganzen.«
    Ein Stuhl wurde gerückt: Féraud stand auf.
    »Welches Ganzen?«
    »Es ist ein Mosaik, verstehen Sie? Jedes Steinchen bringt die Wahrheit etwas deutlicher zum

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