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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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nicht lange, bis sie ihn entdeckte. In Osttimor gab es Erdöl. Bei Probebohrungen waren unlängst vor der Küste der Insel bedeutende Vorkommen entdeckt worden. Der Marktwert der Offshore-Vorkommen wurde auf insgesamt fünfzehn Milliarden Dollar geschätzt. Die Australier hatten ein Abkommen mit der amtierenden Regierung geschlossen. Im Fall eines Staatsstreichs würden sich die neuen Machthaber – die Rebellen – neue Partner für die Ausbeutung dieser Vorkommen suchen. Warum nicht diejenigen, die sie mit Waffen versorgt hatten?
    Man musste die Geschichte also andersherum lesen. Bernard Gimenez, der für das Verteidigungsministerium arbeitete, hatte die Firma EDS Technical Services nicht deshalb protegiert, um für seine Partei, die PRL, geheime Gelder zu kassieren. Es war umgekehrt . EDS hatte auf Anweisung der Politiker gehandelt und Waffen für einen Putsch bereitgestellt, der dem Interesse Frankreichs dienen konnte. Politiker und Industrielle hatten sich anschließend den Kuchen geteilt – die Gewinne aus dem Verkauf von Waffen –, aber das waren nur die Appetithäppchen. Alle warteten auf den Hauptgang: die Erschließung der Ölvorkommen.
    Das einzige Problem: Der Putsch war gescheitert. Die Sache war erledigt. Aus diesem Grund gaben die Tonbandaufzeichnungen nichts her. EDS Technical Services, RAS und die PRL hatten keine Kontakte mehr. Diese Situation bestärkte Jeanne in ihrem Entschluss. Die Fortführung der Telefonüberwachung würde nichts bringen. Sie musste die Protagonisten der Affäre vorladen.
    »Kann ich gehen?«, fragte Claire.
    Jeanne blickte auf ihre Uhr: vier. Beim Studium der Dokumentation war die Zeit wie im Flug vergangen. Sie erinnerte sich, dass heute Freitag war. Dank der Arbeitszeitverkürzung glich der letzte Tag der Arbeitswoche einem Stück Chagrinleder.
    »Kein Problem. Ich werde noch weiterarbeiten.«
    Claire verschwand mit einem Rascheln ihres Kleides. Jeanne streckte sich und betrachtete die Akten auf ihrem Schreibtisch. Sie musste heute noch weitere Fälle erledigen. Doch sie wollte zunächst das Osttimor-Dossier abschließen. Sie wollte genau wissen, wo im Pazifik dieser strategische Punkt lag. Also entfaltete sie die Karte, die Claire am Vortag gekauft hatte, und machte sich auf die Suche nach der Insel in Form eines Krokodils.
    Jeanne folgte den Linien, den Riffen und den Küsten und ließ sich von dem Klang der exotischen Namen einlullen. Ihre Gedanken schweiften ab. Sie erinnerte sich an ihre große Reise. Nach ihrem Abschluss an der Nationalen Hochschule für das Richteramt hatte sie sich ein Sabbatjahr gegönnt, um den südamerikanischen Kontinent zu durchqueren.
    Sie hatte ihre Reise in Mittelamerika begonnen. Nicaragua. Costa Rica. Dann Südamerika im eigentlichen Sinn. Brasilien, Peru, Argentinien, Chile ... Das war keine übliche Rundreise. Jeanne hatte dieses riesige Gebiet allein bereist, mit zusammengebissenen Zähnen. Dabei hatte sie sich ständig gesagt: »Das kann man mir nicht mehr nehmen. Jede Empfindung, jede Erinnerung ist in meinem Innern gespeichert.« Ein Abdruck, eine Spur, eine Öffnung, die sie in ihrem Innern bewahren würde. Bei Liebeskummer konnte ihre Seele dort Zuflucht und Trost finden ...
    17.00 Uhr. Sechzig Minuten lang Träumereien. Mist. Sie beeilte sich. Schrieb mehrere Notizen für Claire, im Hinblick auf die Vorladungen von Bernard Gimenez, Schatzmeister der PRL, Jean-Pierre Grissan, Generalsekretär, Simon Maturi, Generaldirektor der Firma RAS, Jean-Louis Demmard, Chef von Noron, und Patrick Laiche, Geschäftsführer von EDS.
    Sie legte die Zettel auf Claires Schreibtisch. Betrachtete die anderen Akten. Sie hatte die Wahl. Sie konnte sich bis 22.00 Uhr in ihr Büro einschließen, um diesen Papierkram zu erledigen, oder sich verdrücken, in ihre Wohnung fahren und sich im Bett einige Folgen von Grey's Anatomy ansehen, während sie ihr übliches Schälchen trockenen Reis verzehrte.
    Tatsächlich gab es noch eine weitere Möglichkeit. Jene, die ihr seit dem Morgen im Kopf herumging.

 
    14
    Die Praxis von Dr. Antoine Féraud befand sich in der Rue Le Goff 1. Eine kurze Gasse, die im Schatten des Panthéon die Rue Gay-Lussac mit der Rue Soufflot verbindet. In den Windungen dieser recht dunklen Gasse verbergen sich Steintreppen, wie man sie auch auf dem Montmartre findet und die zu noch schmaleren Gässchen führen. Das Praxisgebäude stand an der Ecke zwischen Rue Le Goff und Rue Soufflot. Jeanne hatte sich in ihrem Wagen an der Kreuzung

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