Im Wald der stummen Schreie
Spiegel und wollte eine Sekunde lang nicht glauben, dass dieses harte, verschlossene Gesicht ihres war. In nur einem Tag war sie zehn Jahre gealtert. Ausgemergelte Wangen, zu hohe Backenknochen, Ringe und Falten um die Augen. Zum ersten Mal war sie froh, dass Thomas sie nicht mehr anrief. Dass niemand sie anrief. Sie hätte jedem Angst eingejagt.
Jeanne kehrte ins Wohnzimmer zurück. Die Feuchtigkeit der nachmittäglichen Regenschauer schwebte noch in der Wohnung. Die Nacht war schwül. Auf dem niedrigen Beistelltisch lag ein an sie adressierter Kraftpapierumschlag. Die beiden CDs des Abends. Das versiegelte Original und die Kopie der aufgezeichneten Gespräche von Antoine Féraud.
Das würde sie auf andere Gedanken bringen.
Sie begann sogleich mit ihrem kleinen Ritual. Ein Kaffee, dazu ein Glas Sprudel (eine Gewohnheit, die sie in Argentinien angenommen hatte). Dunkelheit. Notebook. Kopfhörer. Sie schmiegte sich wie eine Katze in die Kissen. Legte die CD ins Laufwerk ein.
»Ich habe immer denselben Traum«, sagte die Frau.
»Welchen Traum?«
»Ein goldener Engel rettet mich vor dem Tod.«
»Welchem Tod?«
»Ich springe aus dem Fenster.«
»Ein Selbstmord?«
»Ja, ein Selbstmord.«
»Haben Sie tatsächlich schon einmal in Betracht gezogen, sich umzubringen?«
»Das wissen Sie doch. Drei Jahre Depression. Zwei Monate in der Psychiatrie. Ein Jahr Gesichtslähmung. Ja, ich habe das durchaus ›in Betracht gezogen‹, wie Sie sagen.«
»Haben Sie versucht, sich aus dem Fenster zu stürzen?«
»Nein.«
Schweigen des Therapeuten. Eine Einladung zum Nachdenken.
»Nun ja, doch ...«, räumte die Frau ein.
»Wann war das?«
»Ich weiß es nicht mehr. Es war die Zeit, in der es mir besonders schlecht ging.«
»Erinnern Sie sich an die Umstände. Wo haben Sie damals gewohnt?«
»Boulevard Henri-IV, im 4. Arrondissement.«
»In der Nähe der Place de la Bastille?«
»Direkt an der Place, ja ...«
Antoine Féraud stellte keine Fragen mehr. Er schien gleichsam über einen Wahrheitsdetektor zu verfügen, der ihn in die Lage versetzte, unter dem Redefluss eine leise emotionale Vibration, ein Detail aufzuspüren, das seine Patienten veranlasste, sich zu öffnen.
»Ich erinnere mich«, murmelte die Frau. »Ich öffne das Fenster. Ich sehe den Himmel ... die Figur auf der Säule an der Place de la Bastille – der Genius der Freiheit ... Sie glänzt vor dem dunklen Himmel. Alles verkehrt sich in meinem Kopf. Das Nichts zieht mich nicht mehr an. Die Kraft des Engels pulsiert in mir. Seine Stärke. Er hält mich innerlich aufrecht. Er stößt mich zurück ins Leben.« Sie begann zu schluchzen. »Ich bin gerettet ... Gerettet ...«
Die Praxis des Dr. Féraud, das waren die Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Geschichten. Schicksale. Personen. Jeanne verglich die Haltung des Psychotherapeuten mit ihrer eigenen Rolle, wenn sie Verdächtige ausquetschte. Vordergründig verfolgten sie entgegengesetzte Ziele: Jeanne verhörte ihre ›Kunden‹, um sie hinter Gitter zu bringen, Féraud befragte sie, um sie zu befreien. Aber im Grunde handelte es sich immer darum, verborgene Taten zu gestehen.
Jeanne lauschte noch immer. Vor allem auf die Stimme Férauds, die so etwas Warmes, Behagliches und Tröstendes hatte. Wie Blätter, die sich über einer Blüte schlossen.
Sie spielte die CD im Schnelldurchlauf ab. Blieb bei einem Patienten hängen. Überschwängliche Stimme, beschleunigter Redefluss. Der Mann sprach, hielt inne, redete weiter. Ein Wort ergab das andere. Assoziationen. Alliterationen. Gegensätze. Ein bisschen wie in diesem uralten Spiel: Regenguss ... Gusseisen ... Eisenstab ...
Der Patient schilderte einen Traum und den Anlass dieses Traumes. Bevor er zu Bett ging, hatte er ein intellektuelles Magazin, La Règle du jeu , gelesen. Dieser Name hatte ihm Jean Renoir in Erinnerung gerufen, den Regisseur eines gleichnamigen Films. In seinem Traum wurde der Spielfilm durch Die Bestie Mensch , einen anderen Film Renoirs, ersetzt, in dem Jean Gabin einen Dampflokführer spielt. Schreckliche, unvergessliche Schwarz-Weiß-Bilder der in vollem Tempo dahinrasenden Lok mit dieser tragischen Figur am Steuer. Diese Vision ging im Traum immer in die letzte Szene eines Stückes von Tschechow über – der Patient erinnerte sich nicht mehr an den Titel –, in dem die Protagonisten ihre letzten Worte wechseln, während aus den Kulissen das Pfeifen eines Zuges ertönt. Der Traum hatte auf eine schwer fassbare Weise den ganzen
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