Im Wald der stummen Schreie
Vorschein.«
Der Spanier sprach jetzt ebenfalls immer hitziger. Seine Stimme wirkte wie verbrannt durch jahrelange Einwirkung von Hitze und Staub. Jeanne stellte sich einen hochgewachsenen, grauhaarigen, eleganten Mann um die sechzig vor. Ein Mann, der durch Hitze und Angst verdorrt war.
»Ich will ihn kennenlernen«, beharrte Féraud.
»Das ist zwecklos. Er wird nichts sagen. Ich meine: der Andere wird nichts sagen.«
»Wollen Sie es nicht wenigstens mal versuchen?«
Schritte. Offenbar ging Féraud dem Spanier nach, der sich an der Tür befand. Kurze Stille.
»Ich werde sehen. Ich rufe Sie an.«
Abschiedsworte. Die Tür wurde zugezogen. Dann nichts mehr. Antoine Féraud musste seine Praxis bald darauf verlassen haben. Jeanne hörte sich diese rätselhafte Unterhaltung mehrere Male an und ging dann zu Bett, ohne in ihrem Schlafzimmer oder im Bad Licht zu machen.
Als sie sich die Zähne putzte, dachte sie daran, dass sie sich heute Abend nicht wieder hatte gehen gelassen. Sie hatte sich nicht gestreichelt. Sie war auf eine seltsame Weise stolz darauf. Es war ein unschuldiger Abend.
Sie streckte sich auf dem Laken aus. Die Hitze war unerträglich. Das Gewitter kam näher. Jeanne sah durch das Fenster die im Mondlicht schimmernden Wolken über den Himmel ziehen. Sie drehte sich um und schmiegte die Wange an ihr Kopfkissen. Frische. Sie parfümierte es jeden Abend mit Eukalyptus, ein Relikt ihrer Kindheit ...
Sie schloss die Augen. Antoine Féraud. Seine Stimme. Einige Stunden zuvor, bei ihrer Therapeutin, hatte sie nicht widerstehen können.
»Ich habe von einem Psychiater gehört«, sagte sie in möglichst gleichgültigem Ton. »Antoine Féraud. Kennen Sie ihn zufälligerweise?«
»Flüchtig.«
»Was wissen Sie über ihn?«
»Er arbeitet in einer Klinik. Ich erinnere mich nicht mehr, in welcher. Außerdem hat er eine Praxis im 5. Arrondissement. Und einen guten Ruf.«
»Wie ist er?«
»Ich kenne ihn kaum. Ich bin ihm lediglich bei Kolloquien begegnet.«
»Wie sieht er aus?«
Ihre Therapeutin lachte belustigt.
»Ziemlich gutaussehend.«
»Das heißt?«
»Überdurchschnittlich attraktiv. Wozu diese Fragen?«
Jeanne hatte eine Geschichte über ein psychiatrisches Gutachten erfunden, eine unmittelbar bevorstehende Begegnung. Wie eine Maus war sie mit dieser wertvollen Information geflohen. Überdurchschnittlich attraktiv ...
Im Halbschlaf hing sie ihren Gedanken nach. Sie befand sich in der Mitte einer Furt. Sie hatte das Ufer Thomas verlassen – was ihr weit leichter gefallen war, als sie erwartet hatte –, aber sie war noch nicht am anderen Ufer angekommen. Dem der Stimme. Dem Férauds.
Und in der Zwischenzeit strömte der Fluss der Tage zwischen ihren nackten Füßen ...
Der Regen peitschte gegen die Scheiben – das Gewitter war endlich losgebrochen. Jeanne traf eine Entscheidung. Eine vage, unwillkürliche Entscheidung, die bereits vom Schlaf überschattet war, aber, wie sie wusste, am nächsten Morgen mit Nachdruck zurückkehren würde.
Ich muss sein Gesicht sehen. Das Gesicht der Stimme.
13
»Ich glaube, ich hab etwas«, sagte Bretzel.
Jeanne begriff nichts. Das Klingeln des Handys hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Ihr Blick glitt zu der Uhr auf ihrer Nachtkonsole, auf die ein Lichtbalken fiel. Viertel nach neun. Sie war nicht aufgewacht.
»Ich höre«, sagte sie, nachdem sie sich geräuspert hatte.
»Drei Überweisungen von RAS in die Schweiz. Jedes Mal auf das gleiche Konto bei der UBS.«
Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Die Sonne durchflutete ihr Zimmer. Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
»Die Beträge?«, fragte sie reflexartig.
»200 000 Euro, 300 000 und 250 000. In weniger als einer Woche.«
»Hast du den Namen des Empfängers?«, fragte sie, noch immer halb benommen.
»Natürlich nicht. Aber die Daten passen. Juni 2006. Kurz nach dem Transport der Waffen und der Bezahlung der Rechnungen von EDS. Über annähernd die gleichen Beträge. Jetzt müssen wir in der Schweiz nachforschen.«
RAS. Schweizer Banken. EDS ... Jetzt wusste sie, worum es ging. Osttimor. Waffengeschäfte. Das Spiel der Korruption zwischen dem Industrieunternehmen und Angehörigen des französischen Verteidigungsministeriums. Aber ihr Bewusstsein war noch immer überschattet von dem Albtraum, der die ganze Nacht hindurch mehrfach wiedergekehrt war.
Jeanne bewegte sich durch ein Labyrinth aus feuchtem Beton. Sie entdeckte den verstümmelten, dicken Körper von Nelly Barjac in einer
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