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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Pfütze. Eine Art Gollum mit wuchtigem Schädel verschlang ihr Fleisch. Aufstoßend und stöhnend riss er die Haut auf, saugte Knochen aus, wühlte mit seinen gekrümmten Fingern im Gehirn und riss blutige Fleischstücke ab. Im Traum war Gollum eine sterile oder vergewaltigte Frau. Sie grunzte mit blutverschmiertem Mund. Auf dem Bauch trug sie eine frische Narbe. Vielleicht die Spur der Geburt eines Ungeheuers, das die mollige Zytogenetikerin nicht aufgespürt hatte.
    Das Ende des Traums war furchtbar. Gollum hob die Augen und entdeckte einen Spiegel. Die Kannibalin war niemand anderes als Jeanne selbst.
    »Hörst du mir überhaupt zu? Ich hab dich doch nicht geweckt?«
    »Nein, nein.«
    »Ich habe gesagt: Die Schweiz, das wird ganz schön schwierig werden.«
    Jeanne konzentrierte sich. Bretzel hatte Recht. Sie hatte bereits mit schweizerischen Behörden zu tun gehabt. Die Identität eines Kontoinhabers bei einer Schweizer Bank wurde nur dann offengelegt, wenn der Nachweis erbracht wurde, dass die überwiesenen Gelder aus illegalen Quellen stammten. Im konkreten Fall bedeutete dies: Sie mussten nachweisen, dass die Geldüberweisung auf gefälschte Rechnungen zurückzuführen war.
    »Wir werden sehen«, sagte sie, während sie sich in ihrem Bett aufrichtete. »Und was ist mit den Transkriptionen?«
    »Nichts. Nicht eine verdächtige Unterhaltung. Eine Sackgasse.«
    »Und die E-Mails?«
    »Null. Wir müssen einen Gang höher schalten. Durchsuchungen?«
    »Nein. Ich werde sie eher vorladen.«
    »Hast du denn genug vorzuweisen?«
    »Ich hab nichts. Außer dem Überraschungseffekt.«
    »Das musst du selbst wissen. Ich werde bei den Überweisungen und Transfers weiter nachbohren.«
    »Ruf mich an. Ich schreibe die Vorladungen.«
    »Eine letzte Sache. Mir fehlt eine richterliche Anordnung.«
    Für jede Abhörmaßnahme bedurfte es einer richterlichern Anordnung. Jeanne stellte sich dumm:
    »Welche?«
    »Diejenige, die die Überwachung des Psychiaters Antoine Féraud betrifft.«
    »Das muss meine Assistentin vergessen haben.«
    »Hältst du mich für blöd? Ich kann die Sache vertuschen, aber die Typen von der SIAT können das nicht. Sie brauchen für jede Installation eine unterzeichnete richterliche Verfügung. Das lernt ein Jura-Student im ersten Semester.«
    »Ich kümmere mich darum. Ich lass sie dir zukommen.«
    »Das Papier ist schnuppe. Wenn du mich zu einer illegalen Lauschoperation veranlassen willst, dann spiel mit offenen Karten. Wir treffen uns und reden drüber.«
    »Einverstanden. Wir reden drüber. Aber nicht am Telefon.«
    Jeanne legte auf. Dann rief sie Claire im Büro an, um ihr mitzuteilen, dass sie sich verspäten würde. Sie stand auf. Setzte einen Nespresso auf. Schluckte ihr Antidepressivum. Ging ins Bad. Unter der Dusche dachte sie nochmals an Bretzels Warnung. Diese Lauschoperation würde sie teuer zu stehen kommen. Ziemlich naiv zu glauben, dass die akustische Überwachung von Férauds Praxis unbemerkt bleiben würde ...
    Sie kehrte geduscht, frisiert und geschminkt in die Küche zurück. Der Kaffee war kalt. Sie brühte sich noch einen und strich sich eine Scheibe Vollkornbrot. Während sie hineinbiss, sah sie vor ihrem inneren Auge Szenen aus dem Albtraum wieder. Gollum. Weißes und schwarzes Fleisch. Knurren. Dann wandten sich ihre Gedanken der Wirklichkeit zu. Der Besuch am Vortag. Der Tatort. Die Fruchtbarkeit als Ziel der Begierde. Der verschlungene Uterus. Eine Frau, ja, vielleicht ...
    Eine halbe Stunde später raste Jeanne über die Schnellstraße, ohne irgendein Tempolimit zu beachten. Zwanzig Minuten später saß sie hinter ihrem Schreibtisch, umgeben von den Unterlagen zu Osttimor. Sie wollte den Morgen – das, was davon noch übrig war – dazu nutzen, sich gründlich mit der Akte vertraut zu machen, bevor sie die Vorladungen unterzeichnete.
    Jeanne las noch einmal die Dokumente des Antrags auf Einleitung eines Ermittlungsverfahrens durch. Irgendetwas stimmte nicht. Weshalb wurden Waffen an Rebellen in einem so entlegenen Land verkauft? Reines Profitinteresse? Der Deal hatte eine Million Euro eingebracht, die sich die an der Transaktion Beteiligten obendrein auch noch teilten. Nicht viel Geld für ein solches Geschäft. Und dabei war das Risiko groß, dass die Medien lang und breit darüber berichten würden. Die Mitwirkung an der Ermordung eines Friedensnobelpreisträgers war keine Kleinigkeit.
    Sie wandte sich wieder ihrer Dokumentation zu und suchte nach einem Schlüssel. Es dauerte

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