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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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sich nicht verbergen: Sie hatten nicht den leisesten Schimmer. Und dieser spöttische Hüne ging ihnen auf die Nerven. Er öffnete die Tür. Sein Lächeln schwebte noch immer im Raum.
    Die Gruppe zog schweigend an ihm vorbei. Pavois grüßte sie mit einer Geste und verschwand in seinem Büro.
    Im Aufzug fragte François Taine Jeanne:
    »Bescheuerter Typ. Was hältst du davon?«
    »Lass überprüfen, ob Fruchtwasser gestohlen wurde.«
    »Wo?«
    »Im Labor?«
    »Von wem?«
    »Vom Täter.«
    »Weshalb hätte er das tun sollen?«
    Jeanne wich der Frage aus.
    »Lass das Viertel durchkämmen. Setz dich mit der Verkehrspolizei in Verbindung. Er ist nicht in einer fliegenden Untertasse verschwunden. Er wurde vielleicht kontrolliert.«
    »Das wäre wirklich ein Wunder.«
    »So was hat es schon gegeben.«
    Die Tür öffnete sich. Taine, der abgewandt zur Tür stand, ging rückwärts hinaus in die Eingangshalle. Die Anspannung, die die Besichtigung des Tatorts und die Vernehmung in ihm ausgelöst hatten, schien von ihm abzufallen.
    »Okay«, sagte er, in die Hände klatschend. »Ich überprüfe das. Sobald die Obduktionsberichte vorliegen, ruf ich dich an. Wir könnten zusammen zu Abend essen und das in Ruhe besprechen. Was meinst du?«
    Jeanne verzog das Gesicht. Es war die Bestätigung eines Verdachts, der sie quälte, seitdem sie das Landgericht verlassen hatten. François Taine wollte diese kannibalistischen Verbrechen dazu benutzen, sie anzumachen.
    War sie so kaputt, dass man sie mit einer Leiche ködern konnte?

 
    12
    20.30 Uhr.
    Jeanne war ins Landgericht zurückgefahren, hatte jedoch ihre Vernehmungen abgesagt. Sie war zu erschöpft. Den laufenden Papierkram hatte sie rasch erledigt. Eine Vorladung für Michel Dunant unterzeichnet, den Mistkerl, der ein ganzes Gebäude mit Blei vergiftet hatte, weil er scharf auf ein junges Mädchen war. Andere Akten hatte sie überflogen. Aber sie hatte nicht die Kraft besessen, sich wieder in den Fall des Waffenschmuggels nach Osttimor zu vertiefen. Morgen. So wiegte sie sich bis zu ihrem Termin bei ihrer Psychotherapeutin in der Illusion, zu arbeiten. Das Einzige, was sie wirklich wieder auf die Beine bringen konnte ...
    Jetzt war sie in ihrer Wohnung. Der Tag neigte sich, und die tiefgrauen Regenwolken am Himmel schienen auf den Einbruch der Dunkelheit zu warten, um sich ein weiteres Mal zu entladen. Mit ihrer noch immer feuchten Jacke stand sie reglos in der Küche und starrte auf die chinesischen Gerichte, die sie ohne nachzudenken gekauft hatte. Sie hatte nicht den geringsten Appetit.
    Bilder der Toten zogen an ihrem inneren Auge vorbei. Verstümmelt, zerstückelt, teilweise verzehrt. Ihre klaren Augen inmitten eines bläulichen Gesichts. Ihre verstreut umherliegenden Gliedmaßen. Ihre Eingeweide. Und außerdem die Motive an den Wänden, deren Schwärze etwas mit Schmierfett und Motoröl zu tun hatte ... Sie erinnerte sich auch an allzu weiße, allzu keimfreie Labors. An das unbewegte Gesicht von Bernard Pavois hinter seiner Brille à la Elvis Costello. Nelly war in dieser Daseinsform verschwunden. Aber ihre Seele setzte ihre Reise fort.
    Plötzlich spürte sie einen stechenden Schmerz in der Magengrube. Begleitet von einem starken Krampf. Sie stürzte zum Spülbecken und wollte sich übergeben. Aber es kam nichts. Sie drehte das kalte Wasser auf und hielt ihr Gesicht unter den klaren Strahl. Leicht benommen richtete sie sich wieder auf und kramte einen Müllsack heraus, in den sie die chinesischen Gerichte warf. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, die Speisen aufgegessen zu haben. Mülleimer, Magen, der gleiche Kampf.
    Sie ging ins Schlafzimmer, um Kleider zum Wechseln zu holen. Jeanne hatte eine unpersönliche kleine Dreizimmerwohnung in der Rue du Vieux-Colombier. Weiße Wände. Dunkler Holzfußboden. Eingerichtete Küche. Eine jener renovierten Wohnungen, in denen die Metropole ihre vielen Tausend Singles unterbringt.
    Sie genoss die Dusche. Der heiße Strahl spülte das Regenwasser und den Schweiß von ihrer Haut. Sie tauchte in den Dampf und das Plätschern ein und hatte den Eindruck, sich darin aufzulösen. Sie bewegte sich noch immer am Rande eines Abgrundes ... Und wenn die Depression sie wieder überkommen würde? Sie ertastete die Shampoo-Flasche. Das beruhigte sie. Sie hatte das Gefühl, sich nicht nur die Haare, sondern auch die Seele zu waschen.
    Mehr oder minder besänftigt, verließ sie die Kabine, trocknete sich ab und kämmte ihr Haar. Sie blickte in den

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