Im Wald der stummen Schreie
brennende Zielscheiben. Schon lange war Jeanne nicht mehr so glücklich gewesen.
Féraud sprach mit Leidenschaft. Sie hörte ihm noch immer nicht zu. Was sie berührte, war seine Begeisterung. Seine spontane, redselige Seite. Und auch sein Wille, sie mit seinen Kenntnissen zu verführen.
An der Place de la Concorde nahm er ihren Arm.
»Versuchen wir's mit den Tuilerien?«
Sie nickte. Der Verkehrslärm. Der Gestank der Abgase. Die steinernen Springbrunnen schimmerten rosa. Touristen, die einander verzückt fotografierten. Alles, was sie an einem gewöhnlichen Tag geärgert hätte, wirkte jetzt verzaubert und unwirklich.
»Ich rede wie ein Wasserfall, dabei weiß ich nichts über Sie«, sagte Féraud, während sie die Tuilerien betraten. »Was arbeiten Sie, wenn ich fragen darf?«
Natürlich würde sie ihm nicht die Wahrheit sagen.
»Ich arbeite in der Kommunikationsbranche«, antwortete sie aus dem Stegreif.
»Was heißt das?«
»Ich bin Inhaberin eines Textbüros. Wir verfassen Werbebroschüren. Nichts Aufregendes.«
Féraud wies auf eine Bank. Sie nahmen Platz. Die Nacht senkte sich auf die Gärten herab und verlieh den Gegenständen eine größere Schwere. Die Dunkelheit entsprach der Gemütslage Jeannes, die sich gern dieser Tiefe und Schwere hingab.
Féraud fuhr fort:
»Was zählt, ist, dass man seinen Beruf jeden Tag, jede Minute liebt.«
»Nein«, erwiderte sie, ohne nachzudenken, »was zählt, ist die Liebe.«
Schon presste sie die Lippen zusammen, weil ihr eine solche Dummheit herausgerutscht war.
»Wissen Sie, das Sie eine ganz besondere Art haben, ›nein‹ zu sagen?«
»Nein.«
Féraud lachte hellauf.
»Wieder das Gleiche! Sie wenden kurz den Kopf zur Seite, ohne diese Geste zu vollenden.«
»Weil ich nicht nein sagen kann, nicht vollständig.«
Er nahm ihre Hand und drückte sie sehr zärtlich.
»Sagen Sie dies nie zu einem Mann!«
Sie wurde rot. Auf jede Erwiderung folgte ein kurzes Schweigen. Eine Pause, in der sich Verlegenheit und Freude miteinander verbanden. Wie lange hatte man ihr nicht mehr so zärtliche Worte gesagt?
Sie versuchte, in der Gegenwart, im Gespräch zu bleiben – und nicht vor lauter Glück den Kopf zu verlieren.
»Und Sie«, zwang sie sich zu fragen, »laden sich diese ganze Wäsche auf?«
»Welche Wäsche?«
»Sie waschen doch die Schmutzwäsche Ihrer Patienten, oder?«
»Das kann man so sagen, ja. Es ist nicht immer leicht, aber mein Beruf ist meine Passion. Ich lebe ausschließlich dafür.«
Jeanne sah in diesem Satz ein positives Anzeichen. Keine Frau. Keine Kinder. Sie bedauerte es bereits, gelogen zu haben. Denn sie hätte genau das Gleiche über ihren Beruf sagen können. Zwei, die ihren Beruf liebten. Zwei, deren Herz frei war.
»Wie erklären Sie sich diese Passion?«
»Wollen Sie den Analytiker analysieren?«
Sie schwieg und wartete auf seine Antwort.
»Ich glaube, mir gefällt es, im Zentrum des Mechanismus zu stehen.«
»Was für eines Mechanismus?«
»Des Mechanismus der Väter. Der Vater ist der Schlüssel zu allem. Die Persönlichkeit eines Kindes, sein Verhalten und sein Begehren werden immer maßgeblich vom Schattenbild des Vaters geprägt. Das gilt besonders für das sogenannte Böse im Menschen.«
»Ich kann Ihnen nicht richtig folgen.«
»Nehmen wir den Fall eines echten menschlichen Ungeheuers. Eines Wesens, das man nicht als Menschen bezeichnen kann, weil seine Taten so abscheulich sind. Marc Dutroux zum Beispiel. Erinnern Sie sich an diese Geschichte?«
Jeanne nickte. Wenn Dutroux seine Verbrechen im Großraum Paris begangen hätte, hätte sie vielleicht die Ermittlungen geführt.
»Die Taten eines solchen Verbrechers sind völlig unverständlich«, fuhr Féraud fort. »Er hat in einem Keller junge Mädchen verhungern lassen. Er hat sie vergewaltigt und verkauft. Er hat Teenager lebendig begraben. Diese Taten können durch nichts entschuldigt werden. Doch wenn Sie sich eingehend mit seiner Lebensgeschichte befassen, entdecken Sie ein weiteres Monster: seinen Vater. Marc Dutroux hatte eine grauenvolle Kindheit. Er ist selbst ein Opfer. Es gibt eine Vielzahl weiterer Beispiele. Der Serienmörder Guy Georges wurde von seiner Mutter ausgesetzt. Die Mutter des Killers Patrice Alègre hat ihn gezwungen, bei ihren sexuellen Spielchen mitzumachen ...«
»Sie sprechen jetzt von den Müttern.«
»Ich spreche von den Erzeugern im weiteren Sinne. Den ersten Liebesobjekten des Kindes, egal ob Vater oder Mutter. Die Serienmörder
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