Im Wald der stummen Schreie
kräuselte. Und dieses intensive rosafarbene Licht, das sich wie ein Laken auf die Stadt herabsenkte. Féraud fuhr noch immer. Wo war er?
Hinter dem Pont de la Concorde fuhr er links in den kurzen Tunnel hinein, der zur Ausfahrt führte. Auf dem Pont des Invalides bog er rechts ab, überquerte die Seine, bog ein weiteres Mal rechts ab, fuhr die Uferstraße in umgekehrter Richtung bis zur Höhe des Pont Alexandre-III hinauf. Jeanne dachte an Show-Case , einen neuen, angesagten Schuppen zwischen den Strebepfeilern der Brücke. Aber Féraud hielt vor den Gärten, die den Grand Palais säumen, verstaute seinen Helm im Topcase und ging zu Fuß in Richtung Avenue Winston-Churchill.
Jeanne folgte seinem Beispiel. Sie parkte am Fuß einer der Quadrigen des Grand Palais. Ein Gespann wilder Pferde, das sich an der Spitze des Glasdachs emporschwang. Féraud stapfte in Richtung des Gebäudeportals. Jeanne erinnerte sich daran, dass das Museum eine Ausstellung mit dem Titel »Wien 1900« zeigte, die den Malern der Wiener Secession gewidmet war – Klimt, Egon Schiele, Moser, Kokoschka. Ihr schoss der – reichlich absurde – Gedanke durch den Kopf, dass sich dies ganz gut traf, denn die Ausstellung wollte sie sich schon lange ansehen.
Der Psychiater stieg bereits die Stufen hinauf. Sie ging schneller, hoch über ihrem Kopf die riesige Glas- und Stahlkuppel erahnend, die die letzten Sonnenstrahlen wie eine gigantische Lupe sammelte und bündelte. Sie fühlte sich winzig und zugleich leicht, erregt, trunken in diesem Paris, das in der einbrechenden Dämmerung wie ermattet dalag.
Féraud war verschwunden. Er musste irgendeinen Ausweis besitzen, der ihm das Anstehen ersparte. Eine lange Warteschlange erstreckte sich auf der anderen Seite bis zu den Champs-Élysées. Jeanne kramte in ihrer Tasche: Sie besaß ebenfalls einen »magischen Schlüssel«: einen blauweißroten Amtsausweis, der ihr bei Haussuchungen die Türen öffnete. Er würde ihr auch die Türen zu den Wiener Malern öffnen.
Einige Minuten später betrat sie den Ausstellungssaal. Zunächst erschienen ihr diese goldbraunen, rötlichen und braunen Leinwände wie große Bühnenvorhänge, die für ein noch gewaltigeres, noch vielschichtigeres Spektakel aufgezogen worden waren, das sämtliche Künste miteinander vereinen würde. Wien zu Anfang des 20. Jahrhunderts, wo viele Kunstrichtungen eine Blüte erlebten – Malerei, Skulptur, Architektur, aber auch die Musik mit Mahler und Schönberg ... Ganz zu schweigen von der grundlegenden Revolution, die gleichsam den Nährboden bildete: der Psychoanalyse.
Einige Meter vor ihr betrachtete Féraud in aller Ruhe jedes Gemälde. Er hatte keinen Katalog bei sich. Las nicht die Titel unter den Werken. All dies schien ihm vertraut zu sein. Jeanne entspannte sich und nahm sich die Zeit, ebenfalls die Gemälde zu bewundern. Der erste Saal war Klimt gewidmet. Wie immer versetzte sie die Originalität dieses Malers in atemloses Staunen. Der kleinste Farbton. Der kleinste Strich. Das unscheinbarste Motiv. All dies vollzog einen radikalen Bruch mit allem, was zuvor gemalt worden war. Aber es war ein sanfter Bruch. Gleichmäßige wässrige Farbtöne, die an japanische Stiche erinnerten. Raffinierte Farbgebung. Glänzendes Gold. Effekte, die an Emaille, Perlen, farbiges Glas und Bronze gemahnten ...
Und erst die Frauen. Schlummernde Feen mit langem honigfarbenem Haar, die sich an fantastische und zugleich strenge Ornamente schmiegten. Jede Frau umgab ein ornamentaler Nimbus – Figuren und Arabesken, die wie in einem Gewebe angeordnet waren und ihren Schlaf behüteten. Manchmal nahm diese Szenerie einen aquatischen Charakter an. Lange Haare trieben wie Rotalgen in einer Strömung. Der matte Glanz von Perlen und Goldflecken blitzte wie durch eine dicke Harzschicht. Diese Gemälde waren buchstäblich ein »Bad« für die Augen, die Seele, das Herz ...
Féraud war stehen geblieben, vertieft in die Betrachtung eines kleinen Bildes mit einer Seitenlänge von weniger als einem Meter. Jetzt oder nie , sagte sie sich. Sie ging in seine Richtung – zuerst bloß mal neben ihn stellen, dann wird man weitersehen. Mit trockenem Mund und auf wackligen Beinen näherte sie sich, wobei sie im Geiste einige Komplimente wiederholte, die man ihr in letzter Zeit gemacht hatte. Der Absinth-Vergleich von Thomas. Die Bemerkung Taines über ihre Hand im Nacken. Und ihre Mitarbeiterin Claire hatte sie mit der Schauspielerin Julianne Moore
Weitere Kostenlose Bücher