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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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– ob sie nun Psychotiker, Psychopathen oder Perverse sind – haben eine Gemeinsamkeit: Sie hatten eine unglückliche Kindheit. Emotionale Verwahrlosung und Gewalttätigkeit haben dazu geführt, dass sie keine stabile Persönlichkeit aufbauen konnten.«
    Jeanne fand das nicht besonders interessant. Sie kannte diese stereotypen Floskeln, die man ihr jedes Mal auftischte, wenn sie ein psychiatrisches Gutachten über einen Mörder in Auftrag gab. Trotzdem fragte sie:
    »Was verstehen Sie unter ›Mechanismus der Väter‹?«
    »Ich besuche häufig Verhandlungen vor dem Schwurgericht. Jedes Mal, wenn in einem Prozess das familiäre Umfeld eines Mörders geschildert wird, stelle ich mir diese Frage: Weshalb haben die Eltern dieses Mannes versagt? Weshalb waren sie selbst Monster? Waren sie nicht selbst Kinder gewalttätiger Eltern? Und so weiter. Hinter jedem Täter steht ein Vater, der schon selbst ein Täter gewesen ist. Das Böse ist eine Kettenreaktion. Man könnte bis zum Ursprung des Menschen zurückgehen.«
    »Bis zum Urvater?«, fragte sie, plötzlich wieder interessierter.
    Féraud legte seinen Arm auf die Bank hinter Jeannes Rücken. Ohne die geringste Zweideutigkeit. Trotz ihres ernsten Gesprächsthemas wirkte er unbeschwert und heiter.
    »Freud hatte eine Theorie darüber. Er hat sie in der Abhandlung Totem und Tabu dargestellt. Die ursprüngliche Schuld.«
    »Adam und der Apfel?«
    »Nein, der Vatermord. Freud hat eine Parabel entwickelt. Vor sehr langer Zeit, in einer unvordenklichen Vergangenheit, herrschte ein Mann über seine Sippe. Der Anführer. Bei den Wölfen spricht man vom Alpha-Männchen. Er hatte vorrangigen Zugang zu den Frauen. Seine Söhne, die eifersüchtig auf ihn waren, haben ihn getötet und verzehrt. Von da an lebten sie mit Schuldgefühlen. Also haben sie ein Totem nach dem Ebenbild des Vaters angefertigt und sich gegenseitig verboten, die Frauen ihrer Gruppe anzurühren. So entstand das Tabu des Inzests und des Vatermords. Noch heute leben wir mit diesen Schuldgefühlen, die sich tief in uns eingegraben haben. Selbst wenn die wissenschaftliche Anthropologie der These Freuds immer widersprochen hat – diesen Vatermord habe es in Wirklichkeit nie gegeben –, gilt es, die Bedeutung des Mythos zu bewahren. Wir tragen diese Schuld in uns. Oder ihre Intention. Nur eine gute Erziehung erlaubt es uns, auch als Erwachsene unser seelisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten und unsere geheimen Begierden zu kanalisieren. Aber bei der geringsten Störung bricht unsere Gewalttätigkeit durch, die noch durch Verdrängungen und den Mangel an Liebe verstärkt wird ...«
    Jeanne war nicht mehr sicher, ob sie ihm richtig folgen konnte, aber das schien nicht weiter schlimm. Die Pyramide des Louvre funkelte in der Ferne wie ein Kristallkegel. Es musste gegen zehn Uhr sein. Sie konnte es nicht glauben, dass ihre Unterhaltung eine solche Wendung genommen hatte.
    »Und wie war Ihr Vater?«
    Diese indiskrete Frage war ihr herausgerutscht. Féraud antwortete ganz unbefangen:
    »Darüber könnten wir uns doch ein andermal unterhalten, oder?«
    »Wollen Sie sagen: bei einer anderen Sitzung?«
    Sie lachten, aber es war ein mattes Lachen. Féraud hatte sich aus der Vertraulichkeit zurückgezogen. Und Jeanne versank gegen ihren Willen in Melancholie.
    »Ich würde gern nach Hause fahren.« Sie kämmte sich das Haar. »Ich glaube, ich hab genug.«
    »Natürlich.«
    Der Psychiater meinte bestimmt, diese Bemerkung beziehe sich auf ihr Gespräch mit den allzu ernsten Themen. Aber da lag er falsch. Jeanne Korowa war einfach gesättigt mit Wohlbehagen.

 
    16
    Auf der Fußmatte vor ihrer Wohnungstür fand Jeanne einen Umschlag. Die Aufzeichnungen des Tages. Die Sitzungen von Dr. Antoine Féraud. Sie hob den Umschlag auf und sagte sich, dass sie sich die Aufnahmen morgen anhören würde. Sie wollte die Stimme des Psychiaters an diesem Abend nicht noch einmal hören, um die noch frischen Eindrücke nicht zu verfälschen.
    Sie ging direkt ins Bad und stellte sich unter die Dusche. Etwas benebelt, als wäre sie betrunken. Sie hätte nicht sagen können, wie genau die Begegnung zu Ende gegangen war. Sie hatten ihre Handynummern ausgetauscht. Das war alles, woran sie sich erinnerte.
    Jeanne verließ die Duschkabine und zog ein T-Shirt und Boxershorts an. Sie spürte weder Hitze noch Müdigkeit, nur eine Benommenheit. Eine wohltuende Leere. In ihr war nur noch dieses undeutliche Gefühl der aufkeimenden Liebe.
    Sie ging in die

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