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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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verglichen ...
    Seit mindestens einer Minute stand sie – vollkommen reglos – neben Antoine Féraud, vor einem Bild, für das sie keine Augen hatte.
    Und er hatte gerade etwas gesagt.
    Diese Stimme, die sie so oft im Kopfhörer vernommen hatte, hallte jetzt live dicht an ihrem Ohr wider.
    »Ent... Entschuldigung?«
    »Ich habe gesagt, dass ich jedes Mal, wenn ich dieses Bild sehe, an Baudelaire denken muss. ›Ich habe Schmutz geknetet und in Gold verwandelt ...‹«
    Jeanne hätte beinahe laut aufgelacht. Ein Mann, der gleich zu Anfang Baudelaire zitiert, ist nicht wirklich reif für eine Online-Partnervermittlung. Aber wieso eigentlich nicht? Sie betrachtete Klimts Gemälde. Es zeigte eine sehr blasse Frau in einem türkisfarbenen Kleid vor einem orangenen Hintergrund. Das Porträt war in Höhe der Taille abgeschnitten.
    Sie hörte sich in beinahe aggressivem Ton fragen:
    »Ist der Schmutz Ihrer Meinung nach die Vorlage?«
    »Nein«, antwortete Féraud mit sanfter Stimme. »Der Schmutz ist das Alter, das diese Frau verzehren und ihre Schönheit zerstören wird. Die Eintönigkeit des Alltags, die sie zermürben wird. Die Banalität, die nach und nach Besitz von ihr ergreifen wird. Klimt hat sie all dem enthoben. Er hat es verstanden, ihr inneres Brodeln einzufangen. Diesen Moment der Anmut zu enthüllen, der zwischen zwei Herzschlägen aufblitzt. Er hat diesen intimen Moment unsterblich gemacht.«
    Jeanne lächelte. Die Stimme der digitalen Aufzeichnungen. Näher. Wirklicher. Ihren Hoffnungen entsprechend. Sie musterte das Bild. Der Psychiater hatte Recht.
    Porträt von Johanna Staude.
    Als Erstes sprangen einem die beiden Komplementärfarben ins Auge. Das mineralische Türkisgrün des Kleides, das der Maler wie mit Kristallen gemalt zu haben schien. Der rötliche Hintergrund, der wie ein Stück Lava glühte. Jeanne fiel der berühmte Vers von Paul Éluard ein: »Die Erde ist blau wie eine Orange.«
    Wenn man diesen ersten Schock überwunden hatte, entdeckte man das Gesicht. Rund und weiß wie der Vollmond. Dieser blasse Fleck, der von einem schwarzen Pelzkragen gesäumt wurde, war der Schlüssel zum Verständnis des Gemäldes. Er enthüllte eine unaussprechliche Wahrheit, eine märchenhafte Poesie, die einen direkt ins Herz traf und vielleicht noch tiefer: ins Geschlecht. An den Wurzeln des Seins ...
    Jeanne empfand eine zärtliche Zuneigung zu dieser Frau. Dieses mondweiße Pierrot-Gesicht. Dieses kurzgeschnittene schwarze Haar, das damals revolutionär gewirkt haben musste. Diese dünnen roten Lippen. Diese dichten Brauen, die an Satzzeichen erinnerten. All diese Details erinnerten sie an einen Werbespot, der ihr als junges Mädchen sehr gut gefallen hatte. Für das Parfüm Loulou von Cacharel. Eine junge Frau schien auf der sanftesten Melodie der Welt zu schweben: der Pavane von Gabriel Fauré.
    Sie hatte ihren Verbündeten gefunden. Mit einem Mal fühlte sie sich stärker, robuster – aber noch immer nicht in der Lage zu sprechen. Und das Schweigen zog sich in die Länge. Sie zerbrach sich den Kopf darüber, was sie sagen konnte ...
    »Ich besuche diese Ausstellung zum fünften Mal«, fuhr er fort. »Ich erlebe hier eine Art Beruhigung. Diese Ausstellung ist für mich ein Quell der Entspannung und der Heiterkeit.« Er schwieg einen Augenblick, wie um sie das Plätschern dieser Quelle hören zu lassen. »Kommen Sie, ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
    Jeanne folgte. Sie schwebte förmlich. Sie gingen in den folgenden Ausstellungsraum. Trotz ihrer Aufregung bemerkte sie, dass sich die Atmosphäre veränderte.
    Die Wände waren überzogen von Schreien und Verletzungen. Körper, die von Krämpfen geschüttelt wurden. Gesichter, entstellt von Wollust oder Angst. Aber vor allem war es die Stofflichkeit der Malerei selbst, die den Betrachter anfiel. Pastoses Braun, Ocker oder Gold, wie mit einem Messer aufgebracht. Dicke, verrührte, angeriebene Farben, die an bestellte Felder erinnerten, Schmale Gesichter, hervortretende Augen, gekrümmte Klauenhände. Farbflächen, die an gepflügte Äcker erinnerten. Jeanne musste an eine Art Semana Santa in Sevilla denken. Eine Woche der Buße, wo die Kapuzen diese Gesichter gewesen wären und die Kerzen ihre leuchtenden Hände.
    »Egon Schiele!«, rief Féraud aus. »Trotz der Unterschiede zu Klimt verschafft auch er mir eine Art Erleichterung. Seine Gewalttätigkeit ist positiv, heilsam. Ich bin Psychiater und Psychoanalytiker. Meine Arbeitstage sind manchmal ... schwierig.

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