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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Diese Bilder vom Anfang des 20. Jahrhunderts geben mir Mut und Energie.«
    »Tut mir leid«, brachte sie flüsternd heraus. »Ich verstehe wirklich nicht ...«
    »In diesen Werken offenbart sich das Unbewusste! Sie beweisen, dass die Welt, der ich mein Leben widme, tatsächlich existiert. Traum, Sexualität, Angst ... Egon Schiele stülpt die Seele um, als wäre sie ein Handschuh. Er räumt mit dem falschen Anschein, den bürgerlichen Gewissheiten, den tröstlichen Lügen auf ...«
    Jeanne drehte sich alles im Kopf. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen. Ihre Gefühle nährten ihre Wahrnehmung. Doch trotz seiner verführerischen Stimme und seines guten Aussehens hatte sie den Eindruck, dass Antoine Féraud verrückt war.
    »Entschuldigen Sie«, sagte er leiser, wie um sie zu beschwichtigen. »Ich lasse mich gehen ... Dabei habe ich mich nicht einmal vorgestellt.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Antoine Féraud.«
    Sie drückte seine Hand schwach und betrachtete ihn zum ersten Mal aus der Nähe. Ein ausdrucksvolles, fiebriges, aber auf seltsame Weise erloschenes Gesicht. Féraud wollte weder aufschneiden noch sich verstecken. Er stand vor ihr, verletzlich, nachlässig gekleidet, nackt ...
    »Jeanne Korowa.«
    »Ist das polnisch?«
    »Das ist der Name der Bar in Clockwork Orange. «
    Guter Gott, sie redete Stuss. Weshalb erwähnte sie diesen extrem gewalttätigen Film?
    »Aber ist er polnisch?«, fragte Féraud nach.
    »Entfernt. Mein Vater war Pole, aber er ist immer ... weit weg gewesen.«
    Noch eine Information, die die Unterhaltung belastete. Sie wollte witzig sein. Tatsächlich wirkte sie tragisch. Aber Féraud hatte eine Art, sie zu betrachten, sie mit seinem Blick zu umfangen, die bereits eine aufmerksame Zuwendung verriet.
    »Sie scheinen nicht auf dem Damm zu sein. Kennen Sie das Stendhal-Syndrom?«
    »Dario Argento«, flüsterte sie.
    »Wie bitte?«
    » Das Stendhal-Syndrom , ein italienischer Thriller von Dario Argento.«
    »Kenne ich nicht. Ich rede von dem psychiatrischen Syndrom. Menschen, die überempfindlich auf kulturelle Reizüberflutung reagieren. Die zum Beispiel ohnmächtig werden, wenn sie ein Gemälde sehen.«
    »Darum geht es in dem Film.«
    Wieso beharrte sie darauf? In Rückblenden sah sie verschiedene Filmszenen. Asia Argento, die durch die Straßen Roms spaziert, eine blonde Perücke auf dem Kopf, bereit, jeden umzubringen. Vergewaltigte Frauen. Ein Gesicht, weggeschossen von einer Kugel aus einer Automatik ...
    Sie hob die Hand an ihre Stirn und fügte entschuldigend hinzu:
    »Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen. Ich ...«
    Sie konnte ihren Satz nicht vollenden. Féraud hakte sie entschieden unter.
    »Kommen Sie, schnappen wir ein wenig Luft. Ich lade Sie zu einem Eis ein.«

 
    15
    Die frische Luft verschaffte ihr auch keine Erleichterung. In der untergehenden Sonne zitterten die Schatten der Blätter auf dem Boden, und sie hatte den Eindruck, als würde ihr Gehirn die Dinge um sie herum verwackeln. Sie schämte sich für ihren Zustand. Gleichzeitig war sie insgeheim sehr froh darüber, dass ihr so geholfen wurde.
    Sie überquerten die Avenue in Richtung des Théatre Marigny und kauften dann an einem Kiosk ein italienisches Eis.
    »Gehen wir ein paar Schritte?«
    Jeanne nickte. Sie genoss die kühle Frische des Eises und die Zartheit der Frage. Schweigend schlenderten sie Richtung Place de la Concorde. Sie war schon lange nicht mehr durch diese Gärten gebummelt. Die anderen Parks hinter ihren Gittern wirken immer beengend. Dagegen öffnen sich die Gärten an den Champs-Élysées zur Stadt hin, zu der dröhnenden Avenue mit dem Verkehr, dem Lärm und den Abgasen ... Man erlebt eine echte Begegnung. Eine Romanze zwischen Laubwerk und Asphalt, Spaziergängern und Fahrzeugen, Natur und Umweltverschmutzung.
    »Ich habe mich hinreißen lassen«, gestand Féraud. »Wien, Anfang des 20. Jahrhunderts ... Das ist meine Passion. Diese Zeit, wo in heimeligen Lokalen bei Kaffee und Strudel so viel Bahnbrechendes geleistet wurde! Klimt, Freud, Mahler ...«
    Sie konnte nicht glauben, dass er schon wieder damit anfing. Er erging sich in einer ausführlichen Schilderung der geistigen Blüte dieser Epoche. Jeanne hörte nicht mehr zu. Seine Gegenwart sprach sie körperlich an .
    Sie schlenderten weiter, zwischen den Schatten der Bäume und Sträucher, während die Autos mit Vollgas vorbeirasten. Die Abenddämmerung tauchte alles in ihren purpurnen Schein. Die Eisengitter leuchteten wie

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