Im Wald der stummen Schreie
Meer, verwoben mit der Sonne.‹ Dabei geht der Gedanke der Bewegung verloren. Das ist schade. Das Schöne an der ursprünglichen Version ist die Idee, dass die Ewigkeit die Frucht einer Begegnung ist. Eine Unendlichkeit, unterwegs zu einer anderen. In meinem Alter sind dies verlockende Gedanken. Wie wenn der Tod nicht jäh eintritt, sondern einer Kurve, einem Bogen gleicht. Ein sanfter Abhang ...«
»Weshalb hat er deiner Meinung nach den Vers geändert?«
»Vielleicht weil er spürte, dass er jung sterben und diese Bewegung nicht erleben würde. Rimbaud war ein Götterbote, der es eilig hatte.«
Jeanne hob ihr Glas:
»Auf den Rimbaud-Faktor!«
Sie fühlte sich schon betrunken. Plötzlich schrak sie zusammen, da sie an die Worte des alten Spaniers denken musste: Ich glaube, dass er heute Nacht jemanden töten wird. In Paris, im 10. Arrondissement.
Sie kramte in ihrer Tasche und warf einen Blick auf das Display ihres Handys.
Keine Nachricht.
Also kein Leichenfund.
Sie musste sich eingestehen, dass sie auch auf einen Anruf von Féraud wartete. Das war wohl ihr Schicksal – dieser Wunsch, geliebt zu werden.
19
Als Jeanne das Restaurant an der Avenue Montaigne verließ, ging sie nicht zu der Tiefgarage, in der sie ihren Wagen abgestellt hatte. Zu viel getrunken. Sie würde ein paar Schritte gehen, um wieder nüchtern zu werden. Der Jardin des Champs-Élysées befand sich ganz in der Nähe. Warum nicht einen kleinen Abstecher dorthin machen?
Sie kam zu der Stelle, wo sie am Vorabend gewesen waren. Obwohl nur wenige Stunden vergangen waren, kamen sie ihr wie eine kleine Ewigkeit vor. Fern und unfasslich wie ein Traum, an den man sich, gerade erwacht, vergeblich zu erinnern sucht.
Sie schlenderte weiter und hatte das Gefühl, mit jedem Schritt in der drückenden Hitze Alkohol auszuschwitzen. An der Place de la Concorde überquerte sie die Champs-Élysées und wanderte in umgekehrter Richtung zu der Tiefgarage in der Avenue Matignon. Vor der Einfahrt zögerte Jeanne und ging weiter zu der kleinen Grünanlage an den Champs-Élysées. Dort setzte sie sich in die Sonne. Die Anlage war schmutzig, überall lagen Abfälle herum. Aber links von ihr war der samstägliche Briefmarken-Markt in vollem Gang. Und das dunkelgrüne Kaspertheater schien ein Geheimnis, einen unwiderstehlichen, schrecklichen und zugleich köstlichen Mechanismus zu bergen, der die Kinder anzog.
Jeanne überließ sich erneut dem Strom ihrer Gedanken. Sie wagte es sogar, im Geiste alles auf eine Karte zu setzen, wie in einem Ratequiz. Sie benutzte Worte, die sie im Allgemeinen mied – die ältesten, die gewöhnlichsten, die abgedroschensten Worte überhaupt: große Liebe, der Mann meines Lebens, eine schöne Affäre ...
Sie wunderte sich selbst darüber, dass sie diese Worte schon jetzt auf Antoine Féraud bezog. Einen Mann, mit dem sie sich nicht einmal eine Stunde lang unterhalten hatte. Ein Psychiater, den sie ausspioniert hatte, indem sie ihn abhören ließ. Ein Spezialist, über den sie nichts wusste, der aber offenbar andere Sorgen hatte. Aber diese Schnelligkeit gehörte mit dazu. Liebe auf den ersten Blick ...
Schreie rissen sie aus ihren Tagträumereien. Nein, keine Schreie, Gelächter. Unwillkürlich lächelte sie ebenfalls, als sie die Kinder beobachtete, die im Sandkasten spielten, an einem Klettergerüst turnten und mit unsicheren Schritten über den Rasen stapften. Ein Kind. Das letzte Wort in ihrer Schatztruhe.
Jeanne wusste, dass sie zu ernst, zu empfindlich war, aber wenn jemand in ihrer Gegenwart auf die physiologischen Veränderungen während der Schwangerschaft zu sprechen kam – etwa die »schönere Haut« einer Schwangeren lobte oder, im Gegenteil, über den »dickeren Hintern« lästerte –, dann hatte sie keine Lust, darüber zu sprechen. Das war nur die Oberfläche.
Wenn sie selbst schwanger wäre, würde sie sich mit der geheimen Logik des Kosmos verbinden. Sie würde sich selbst im Innersten verstehen, während sie sich zugleich in das Räderwerk des Universums einfügen würde. Sie würde in ein geheimes Einverständnis mit der Lebenskraft eintreten. Mit einer Mischung aus Furcht und Euphorie sehnte sie sich danach, den Sinn des menschlichen Daseins körperlich zu erfahren. Sie konnte es kaum erwarten, dass ihre Gebärmutter ihre natürliche Bestimmung erfüllte. Dass ihr ein Mann seine Liebe, sein Vertrauen und seine Hingabe schenkte, damit sie diese in sich in einen Lebenskeim verwandelte. Das war das
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