Im Wald der stummen Schreie
nicht sagen, aber einige Fälle belasten mich noch immer. Fälle, bei denen es knirschte. Details, die nicht ins Bild passten und die ich aus Gründen der Konsistenz, der Logik einfach ausgeblendet habe. Diese Unstimmigkeiten haben mich jahrelang verfolgt, bis sie mir eine andere Wahrheit enthüllten oder zumindest ernste Zweifel in mir weckten.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie Unschuldige verurteilt haben?«
»Unschuldige, von deren Schuld ich überzeugt war, ja. Auch das. Es passiert. Wir selbst, die Richter, sind nur eine Schwachstelle innerhalb des Systems.«
Jeanne war sich nicht sicher, ob sie Aubusson richtig verstanden hatte. Zehn Jahre später bog sie ihre Fälle noch immer so hin, dass sich ein einigermaßen stimmiges, logisches Bild der Tat ergab. Dagegen hatte sie sich von der Passion für die griechische und römische Bildhauerei anstecken lassen. Mehrere Reisen hatten sie nach Griechenland, Italien und Nordafrika geführt, wo die Museen eine Vielzahl antiker Kunstwerke ausstellen. Auch in den Louvre kehrte sie oft zurück, um die Lebendigkeit dieser Körper und die Schöpferkraft ihrer Urheber zu bewundern.
»Wie geht's?«, fragte sie jetzt.
»Besser, seitdem wir Juni haben.« Er setzte seine Brille auf und überflog die Speisekarte, die der Kellner gebracht hatte. »Jetzt haben wir all diesen Schwachsinn über den Mai 68 endlich hinter uns.«
Jeanne lächelte. Sie wusste, dass jetzt eine kleine militante Rede folgen würde.
»Du warst doch dabei, oder?«
»Ich war dabei.«
»Und du bist nicht einverstanden mit allem, was über diese Ereignisse gesagt und geschrieben wurde?«
Aubusson klappte die Karte zu und setzte die Brille ab. Er hatte eine hohe Stirn, gewelltes graues Haar, ein längliches, majestätisches Gesicht, schwarze Augen, unter denen violette Schatten lagen. Eine Art inneres Feuer schien diese Falten in die Haut eingebrannt zu haben, wie die Sonne den Boden in Afrika rissig werden lässt. Aber an Aubusson war nichts Brüchiges.
»Alles, was ich sagen kann«, hob er an, »ist, dass uns unsere Eltern damals keine Sandwiches schmierten, damit wir an den Demos teilnehmen konnten. Wir waren gegen sie. Wir waren gegen die bürgerliche Ordnung. Wir kämpften für die Freiheit, die Freizügigkeit, die Intelligenz. Heute demonstrieren die Jungen gegen die Heraufsetzung des Rentenalters. Die Bourgeoisie hat alles infiziert. Selbst den Geist der Revolte. Wenn die bestehende Ordnung ihre eigene Gegengewalt hervorbringt, hat das System nichts mehr zu befürchten. Das ist die Ära Sarkozy. Eine Ära, in welcher der Präsident glaubt, selbst auf der Seite der Kunst und der Poesie zu stehen. Der Poesie, die ankommt, natürlich. Eher Johnny Hallyday als Jacques Dupin.«
Kein Mittagessen mit Aubusson ohne eine Schmähung Sarkozys. Sie wollte ihm eine Freude machen:
»Hast du nicht mitbekommen, dass seine Umfragewerte immer schlechter werden?«
»Sie werden auch wieder besser werden. Ich mache mir um ihn keine Sorgen.«
»Du wirst ihn noch zu schätzen lernen.«
»Wie ein Jäger zu guter Letzt den alten Elefanten mag, hinter dem er seit Jahren her ist.«
Der Kellner kam und nahm die Bestellung auf. Zwei Salate, ein Mineralwasser. Nichts Üppiges. Die beiden waren gleichermaßen asketisch.
»Und wie geht's dir?«, erkundigte sich Aubusson.
»Es geht!«
»Was macht die Liebe?«
Sie dachte an Thomas – vorbei. An Féraud – noch nicht begonnen.
»Es ist ein bisschen Ground Zero. «
»Die Arbeit?«
In diesem Moment begriff Jeanne, dass sie unbewusst hierhergekommen war, um sich einen Rat zu holen. Sie wollte über das Dilemma sprechen, in dem sie sich befand: die illegale Lauschoperation und den Mordverdacht. Wie würde sie aus dieser Zwickmühle wieder herauskommen?
»Ich habe ein Problem. Ich verfüge über Informationen, die ich noch nicht überprüft habe, die sich aber als wichtig erweisen könnten.«
»Politischer Natur?«
»Informationen über ein Verbrechen.«
»Wo ist das Problem?«
»Ich kann meine Quelle nicht offenlegen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Informationen echt sind.«
»Kannst du sie wenigstens als Grundlage für weitergehende Ermittlungen nutzen?«
»Nein, nicht wirklich. Die Information ist bruchstückhaft.«
»Worum genau geht es?«
»Möglicherweise wurde gestern Nacht im 10. Arrondissement ein Mord verübt.«
»Das lässt sich doch leicht überprüfen!«
»Bislang gab es keine Bestätigung.«
»Kennst du die Identität des
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