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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Wesen der Fortpflanzung. Eine Liebe, die sich in einem Körper vergegenständlichte. Die Seele, die Stoff wurde.
    Die Sonne war verschwunden. Der Himmel war schwarz. Ein weiteres Gewitter zog auf. Sie stand auf, schniefend, den Tränen nahe. Plötzlich schien ihr alles verloren. Unmöglich. Sie würde nie jemanden finden, der zu ihr passte. Sie würde nie mit einem Mann verschmelzen. Sie war eine gebrochene Frau. Wie ihre Schwester, die man zerstückelt in der Tiefgarage eines Bahnhofs gefunden hatte. Oder wie diese Zytogenetikerin, der man vor zwei Tagen die Kehle durchgeschnitten hatte, ehe sie verstümmelt und teilweise verzehrt worden war.
    Sie musste bitter aufstoßen. Gleich würde sie sich übergeben. Das Läuten ihres Handys rettete sie, gerade als es anfing zu regnen. Sie wühlte in ihren Jackentaschen, ihrer Handtasche und hätte den Anruf beinahe verpasst. Sie zitterte. Zuerst dachte sie an Féraud, dann ans Polizeipräsidium. Ein Leichenfund ...
    »Hallo?«
    »Beeil dich. Ich hab noch eine.«
    Die Stimme von François Taine – angespannt, fiebrig.
    »Noch eine?«
    »Noch einen Kannibalen-Mord.«
    »Wo?«
    »In Goncourt. Rue du Faubourg-du-Temple, 10. Arrondissement. Der Staatsanwalt hat mich angerufen. Er wusste, dass ich in den beiden ersten Fällen ermittle.«
    Jeanne antwortete nicht. Das Räderwerk ihres Gehirns hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Die Wahrheit traf sie wie ein Blitz.
    Ich glaube, dass er heute Nacht jemanden töten wird. In Paris, im 10. Arrondissement.
    Joachim war der Kannibalen-Mörder.
    Oder vielmehr das blutrünstige Kind in ihm.
    Sie konnte den Schrei, der sich ihrer Kehle entringen wollte, gerade noch unterdrücken:
    »Welche Hausnummer?«

 
    20
    Da Jeanne noch schnell zu Hause vorbeifuhr, um sich frisch zu machen und neue Klamotten anzuziehen, traf sie erst um 20.00 Uhr ein. Nicht in der Rue du Faubourg-du-Temple 111, dem Tatort, sondern auf der anderen Seite desselben Blocks, dort, wo man völlig unauffällig in das Labyrinth von Innenhöfen und Gebäuden gelangte, fern der Einsatzfahrzeuge der Polizei und der Blaulichter.
    Der Eingang wurde nur von zwei Polizisten bewacht. François Taine erwartete sie dort.
    »Was haben wir?«, fragte Jeanne ohne Umschweife.
    »Eine junge Frau mit durchgeschnittener Kehle, zerstückelt, teilweise verzehrt. Derselbe Täter, ohne Zweifel.«
    »Wie heißt sie?«
    »Francesca Tercia.«
    »Wie alt?«
    »Älter als die anderen. Vierunddreißig.«
    »Hat sie auch im medizinischen Bereich gearbeitet?«
    »Sie war Künstlerin. Eine Bildhauerin argentinischer Herkunft.«
    »Wo genau hat man sie gefunden? In einer Tiefgarage?«
    »Nein, in ihrem Atelier, dort hinten im Hof.«
    »Was für eine Künstlerin?«
    »Recht ungewöhnlich. Tatsächlich handelt es sich um ein Atelier für Paläoanthropologie. Sie fertigen hyperrealistische Nachbildungen prähistorischer Menschen an. Silikonpuppen mit Haaren, die dir echt Angst einjagen. Sie wurde zwischen diesen Cro-Magnon-Menschen und Neandertalern getötet.«
    Jeanne kannte dieses Atelier, das auf der Welt wirklich einzigartig war. Sie hatte Artikel über die Frau gelesen, die es gegründet hatte. Sie erinnerte sich nicht an ihren Namen, aber die Künstlerin konnte das Gesicht eines Menschen rekonstruieren, der vor 30 000 Jahren gestorben war, indem sie allein anhand seines fossilen Schädels seine Gesichtszüge nachbildete und seine Gesichtsmuskeln aus feuchtem Ton modellierte.
    Die Künstlerin war ihr auch noch aus einem anderen Grunde ein Begriff.
    »Haben sie in diesem Atelier nicht auch für uns gearbeitet?«, fragte sie.
    »Für uns?«
    »Für die Kripo. Rekonstruktionen auf der Grundlage von Gebeinen. Sie verwenden eine spezielle Software.«
    »Keine Ahnung. Die Chefin ist da. Du kannst sie ja fragen.«
    »Und was weißt du über das Opfer?«
    »Bis jetzt nichts.«
    Taine lehnte sich gegen die Mauer, nahe bei den Briefkästen, die Hände im Rücken. Er trug ein Polohemd von Lacoste und eine Leinenhose. Er hatte das Treppenhauslicht nicht eingeschaltet. Sein Gesicht war in das Halbdunkel getaucht. So konnte sie nicht erkennen, wie er drauf war, zumal seine Stimme immer mehrere widersprüchliche Tendenzen verriet. Ärger. Aufregung. Und auch die Freude darüber, dass sie da war. Solange es Leichen gab, würde sie im Laufschritt aufkreuzen ...
    »Hat sie einen ähnlichen Körperbau wie die anderen?«, hakte Jeanne nach.
    »Schwer zu sagen. Jung, brünett, rundlich, recht hübsch. Ich habe Fotos ...

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