Im Wald der stummen Schreie
genetischen Defekte nicht nachweisen. Im Übrigen ist es nicht erwiesen, dass der Autismus mit einer genetischen Anomalie verbunden ist. Die Spezialisten sind sich da nicht einig.«
»Kommen wir auf das erste Opfer zurück. Du glaubst also, dass der Mörder als Kind in dem Zentrum betreut wurde?«
»Ja. Aber auch das bringt uns nicht weiter. Unser Typ ist ein Erwachsener. Er hätte also dort vor mindestens zwanzig Jahren behandelt worden sein müssen. Damals gab es das Institut aber noch nicht.«
Taine klopfte gegen die Briefkästen. Sie waren aus Holz und erinnerten an die Vogelkästen, die man im Garten aufstellt.
»Und die Zeichen an den Wänden?«
»Bislang noch nichts von den Experten gehört. Aber von denen erhoffe ich mir eigentlich nichts. Der Typ hat eine neue Sprache erfunden. Zeichen, die an ein Alphabet erinnern, aber keine Bedeutung haben.«
»Warten wir das Expertengutachten ab.«
Taine zuckte mit den Schultern.
»Bleibt eh nichts anderes übrig.«
Er begann wieder, auf und ab zu gehen. Weniger nervös, weniger entschlossen. Erneute Nachdenklichkeit, vage Ahnungen – die Phase des Sammelns von Eindrücken .
»Meine Intuition sagt mir«, hob er schließlich an, »dass es um eine bestimmte Atmosphäre geht. Eine Rückkehr in die Urzeit. Eine Regression. Die Tatorte rufen Erinnerungen an ein Opferritual wach. Es sind Tiefgaragen und andere unterirdische Orte, die Höhlen gleichen. In diesem Sinne passt das Atelier von heute zu den übrigen Tatorten.«
»Inwiefern?«
»Du wirst es selbst sehen. Ein weiteres Detail: Laut Aussage des Rechtsmediziners wurden die Knochen der Opfer mit einem Feuerstein oder einem Steinwerkzeug zerstückelt. Der Täter hat auch die Knochen zertrümmert, um das Mark herauszusaugen. Unser Typ hält sich wirklich für einen prähistorischen Menschen mit kannibalischen Neigungen. Damit haben wir einen Bezug zu dem Fachgebiet der Bildhauerin Francesca Tercia. All dies deutet auf etwas Archaisches hin. Selbst den Autismus kann man als eine Art Rückfall auf eine frühere Stufe betrachten.«
Jeanne wurde ungeduldig:
»Schön. Gehen wir?«
Taine fragte mit einem wilden Grinsen:
»Dir gefällt das, wie?«
»Was?«
»Das kalte Fleisch.«
Jeanne schaltete auf stur:
»Nicht mehr als das andere.«
»Von wegen. Los, gehen wir.«
»Nein, warte. Willst du damit sagen, dass ich nekrophil bin?«
Taine kehrte um. Sein Lächeln hatte jetzt einen Anflug von Zärtlichkeit.
»Hast du nicht bemerkt, dass du leicht ... bedrückt wirkst?«
»Bedrückt? Überhaupt nicht.«
»Sagen wir, dass du nicht gerade eine Frohnatur bist.«
»Ich kann durchaus fröhlich sein.«
»Ich wette, dass du keinen einzigen Witz kennst.«
»Da irrst du dich. Ich kenne jede Menge.«
»Ich höre.«
Jeanne machte sich die Absurdität dieser Situation klar. In unmittelbarer Nähe eines Tatorts zerbrach sie sich den Kopf, um einen guten Witz erzählen zu können. Aber sie wollte diesem Dummkopf beweisen, dass sie nicht das war, was sie zu sein schien. Eine blutdürstige Richterin. Eine einsame Frau. Eine Frau, die völlig von der Rolle war und nur düstere Gedanken wälzte. Ein traumatisiertes Mädchen, das in seinem tiefsten Innern noch immer im Wald des Schweigens an einem Baum stand und zählte.
»Kennst du den Unterschied zwischen einem automatischen Besprengungssystem und einer Frau, die man fragt, ob sie sich von hinten nehmen lässt?«
»Nein.«
»Es gibt keinen.«
Jeanne signalisierte ein »nein«, indem sie den Kopf wie einen Rasensprenger langsam von rechts nach links drehte.
»Tsk, tsk, tsk, tsk, tsk, tsk ...«
Taine prustete los.
»Komm. Sehen wir uns das Blutbad an.«
21
In der ersten Halle standen zahlreiche Regale, auf denen Köpfe aufgereiht waren, die unterschiedliche Epochen, mimische Ausdrucksformen und Milieus veranschaulichten. Man erkannte Kino- und Fernsehstars sowie bekannte Politiker, aber auch, vor allem, Ahnen des Homo sapiens. Außerdem gab es Muskelmänner aus gebranntem Ton, deren Muskeln mit einem Spatel geriffelt worden waren.
»Pass auf, wo du hintrittst!«
Jeanne folgte Taine in dieses Kuriositätenkabinett. Polizisten entrollten Absperrbänder entlang der Regale, sorgsam darauf bedacht, keine der Büsten herunterzuwerfen. Alle hielten sich die Arme schützend vors Gesicht. Der Geruch nach Ton, Sägemehl und chemischen Substanzen lähmte alle.
Die zweite Halle war noch seltsamer.
Eine Armee orangefarbener Gestalten war an den Wänden aufgereiht:
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