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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Opfers?«
    »Des Mörders, aber auch nicht vollständig. Wie gesagt, ich kann nichts davon verwenden. Meine Quellen sind zu ... heikel .«
    Aubusson dachte nach. Jeanne betrachtete ein weiteres Mal das goldbraune Interieur des Lokals. Die Spiegel, die Fenster mit Glasmalereien, die Einrichtung, dem Speisesaal eines Kreuzfahrtschiffs nachempfunden. Ja, sie hatte sich eingeschifft, doch sie kannte nicht das Ziel ihrer Reise.
    »Erinnerst du dich noch an unseren Besuch im Louvre?«, fragte der ehemalige Richter. »An die griechische Kunst? An die Schwächen des Menschen, aufgehoben in der Vollkommenheit der Gesetze der Kunst?«
    »Was willst du damit sagen?«
    »Die Unvollkommenheit gehört zu unserer Arbeit.«
    »Ich kann also unkonventionelle Wege beschreiten? Mich bei den Ermittlungen über die Vorschriften hinwegsetzen?«
    »Unter der Bedingung, dass du wieder auf den rechten Pfad zurückfindest. Du bringst deine Akten anschließend wieder in Ordnung.«
    »Wenn tatsächlich was dran ist.«
    »Ruf die Staatsanwaltschaft an. Bleib am Ball. Nur das Ergebnis zählt.«
    »Und wenn ich mich irre?«
    »Dann zeigt das, dass du auch nur ein Mensch bist. Ein gewöhnlicher Mensch mit außergewöhnlichen Machtbefugnissen. Auch das ist die Regel.«
    Jeanne lächelte. Sie war gekommen, um das zu hören. Sie rief den Ober:
    »Ich würde gern etwas Kräftigeres trinken. Du nicht?«
    »Nur zu.«
    Kurz darauf wurde Champagner serviert. Einige Schlucke später fühlte sie sich stärker. Kälte schützt vor dem Tod, vor der Verwesung. Diese kleinen sauren Blasen beflügelten ihre Lebensgeister. Sie bestellten zwei weitere Gläser Champagner.
    »Und du«, fragte sie, »was machen deine Liebschaften?«
    »Ich habe noch einige Studentinnen am Wickel«, antwortete der alte Mann. »Und dann ist da noch meine ›Offizielle‹, eine Anwältin in den Vierzigern, die die Hoffnung nicht aufgibt, dass ich sie heiraten werde. In meinem Alter! Eine oder zwei meiner Verflossenen glauben ebenfalls, noch immer im Rennen zu sein.«
    »Ist dir das nicht zu viel?«
    »Ich beehre sie ja nicht alle. Aber ich mag diese Aura der Liebe um mich. Es ist Der Tanz von Matisse. Sie tanzen Ringelreihen, und ich male sie in Blau ...«
    Jeanne zwang sich zu einem Lächeln. Im Grunde missfiel ihr die Einstellung ihres Mentors. Die Untreue, die Lüge, die Manipulation. Sie war noch nicht alt genug, um auf ihre Träume von echter Treue zu verzichten.
    »Wie schaffst du das nur, so zu leben – mit dieser permanenten Lüge und Untreue?« Sie lächelte, um die Schonungslosigkeit ihrer Worte abzumildern. »Wo bleibt da der Respekt?«
    »Es hängt mit dem Tod zusammen«, sagte Aubusson plötzlich ernst. »Der Tod gibt uns alle Rechte. Man glaubt, dass man Reue empfindet, wenn er sich nähert. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wenn man älter wird, bemerkt man, dass alle Überzeugungen, alle Fragen in der Schwebe bleiben. Es gibt nur eine Gewissheit: Man wird abkratzen. Und man wird keine zweite Chance bekommen. Deshalb betrügt man seine Frau und verrät seine Grundsätze. Man verzeiht sich alles oder doch fast alles. Andere – diejenigen, die du verhörst – stehlen, vergewaltigen oder töten aus dem gleichen Grund. Sie wollen ihre Begierden und Wünsche befriedigen, bevor es zu spät ist. Wie heißt doch der Filmtitel: Der Himmel soll warten .«
    Jeanne trank ihr Glas leer und schluckte einmal kräftig. Ein saures Brennen in der Speiseröhre. Sie fühlte sich plötzlich traurig. Ein Ober bot ihnen die Dessertkarte an. Jeanne lehnte dankend ab. Aubusson bestellte zwei weitere Gläser Champagner.
    »Weißt du«, fuhr er in einem fröhlicheren Ton fort, »mich beschäftigt gerade ein kleines Problem. Eine Änderung, die Rimbaud in einem Gedicht vorgenommen hat. ›Sie ist wiedergefunden! / Was? Die Ewigkeit. / Es ist das Meer, verwoben / mit der Sonne.‹«
    Jeanne erinnerte sich nicht genau an das Gedicht, aber sie sah ein Bild vor ihrem inneren Auge. Die letzte Einstellung von Pierrot le Fou von Jean-Luc Godard. Eine Horizontlinie. Die Sonne, die ins Meer gleitet. Die Worte Rimbauds, aus dem Off mit leiser Stimme gesprochen von Anna Karina und Jean-Paul Belmondo ...
    »Du meinst: ›Es ist das Meer, das mit der Sonne geht .‹?«
    »Eben nicht! Rimbaud hat diesen Vierzeiler zweimal veröffentlicht. Zuerst in einem Gedicht mit dem Titel Die Ewigkeit . Und später in Eine Zeit in der Hölle . Zuerst schrieb er: ›Es ist das Meer, das mit der Sonne geht.‹ Später ›das

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