Im Wald der stummen Schreie
viel Platz zwischen den Tischen. Irgendwo hatte sie gelesen, der Innenarchitekt habe sich von dem Speisesaal eines Kreuzfahrtschiffes inspirieren lassen. Ob dies nun stimmte oder nicht – sie hatte hier jedes Mal das Gefühl, an Bord eines Dampfers zu gehen.
»Entschuldige die Verspätung.«
Emmanuel Aubusson, der einen hellen Maßanzug trug, stand auf und küsste sie mit väterlicher Zärtlichkeit auf beide Wangen. Der hochgewachsene alte Mann war nie ihr Liebhaber gewesen – er war viel mehr als das. Ihr Lehrer. Ihr Mentor. Ihr Förderer. Jeanne hatte ihn ganz am Anfang ihrer Laufbahn kennengelernt, unmittelbar nach dem Abschluss ihrer Ausbildung zur Richterin. Sie hatte für ihn gearbeitet, als er noch Vorsitzender der Strafkammer beim Pariser Kassationsgericht gewesen war. Der mittlerweile fast siebzigjährige Aubusson war mager, aber sehnig. Seine Augen funkelten genauso stark wie das rote Abzeichen der Ehrenlegion in seinem Knopfloch. Ein echter Grandseigneur. Aber nicht nur.
Er hatte widersprüchliche Seiten, die jedoch alle von seiner Weisheit überragt wurden. Obwohl er politisch links stand, hatte er noch mit über sechzig ein Vermögen gemacht: als Scheidungsanwalt mit exzellentem Ruf. Noch heute konnte er mehrere Zehntausend Euro dafür verlangen, dass er bloß seine Brille aufsetzte und sich über einen Ehevertrag beugte. Der stolze Einzelgänger war nie verheiratet gewesen, obgleich er dem schönen Geschlecht leidenschaftlich zugetan war. Und obwohl er selbst kinderlos war, brachte er Kindern eine grenzenlose Liebe entgegen. Aber vor allem war dieser kühle, strenge Mann ein Ästhet, ein Kunstliebhaber.
Aubusson hatte Jeanne nicht nur beigebracht, wie die Justiz funktioniert, sondern sie auch für Kunstgeschichte begeistert. Bei einem Besuch im Louvre, im Saal für griechische und römische Plastik, hatte Aubusson ihr schließlich die Gemeinsamkeiten beider »Fächer« vor Augen geführt.
»Weshalb wollten Sie sich hier mit mir treffen?«
»Ich interessiere mich schon lange für die griechische Bildhauerei. Die ersten Jahrhunderte. Dann Praxiteles, Phidias und Lysippos. Die anschließende hellenistische Epoche gefällt mir weniger. Zu viel Faltenwurf, zu viel Bewegung und, in gewisser Weise, weniger Klarheit.«
»Sie haben von letzten Ratschlägen gesprochen, bevor ich meine Arbeit als Richterin beginne.«
»Dieser Ort ist die Metapher dafür.«
»Verstehe ich nicht.«
Er hatte sie sanft am Arm genommen und zu der Figur eines Athleten mit weißen Augen, der in der Ellenbeuge ein Kind trägt, geführt.
»Hermes mit dem Dionysos-Knaben. Die einzige erhaltene Originalskulptur des Praxiteles. Und selbst da ist man nicht sicher. Betrachten Sie die Linien, den Hüftschwung, die plastische Gestaltung. Es heißt, die Griechen hätten die Natur idealisiert, so wie ein Fotograf ein Porträt retuschiert. Das stimmt nicht. Die griechischen Bildhauer verfuhren umgekehrt.«
Jeanne konnte den Blick nicht mehr von diesem wohlproportionierten Körper abwenden, über dessen Muskeln sich die marmorne Haut zu spannen schien.
»Die griechischen Bildhauer gingen von den älteren Vorbildern der ägyptischen Überlieferung aus, um nach und nach individuelle menschliche Züge herauszuarbeiten. Die Unvollkommenheiten ihrer Vorlagen. Sie haben sich bemüht, diesen alten Vorbildern Leben einzuhauchen. Zur Zeit des Praxiteles hat diese Methode die schönsten Früchte getragen. Die mustergültigen Werke der Antike begannen unter den Händen des Bildhauers zu leben und zu atmen. Er hat ein Gleichgewicht zwischen Abstraktion und Individualisierung gefunden.«
Jeanne spürte die Hand des alten Mannes an ihrem Arm. Die Klauen eines Adlers.
»Ich verstehe noch immer nicht, was das mit meinen Fällen zu tun hat.«
»Deine Fälle sind deine Skulpturen. Du wirst immer wieder versucht sein, sie so zu arrangieren, dass sich ein perfektes Bild ergibt. Dass sich die Zeugenaussagen auf die Stunde genau decken. Dass die Motive millimetergenau passen. Dass es nur einen einzigen Tatverdächtigen gibt ... Ich rate dir das Gegenteil.«
»Das heißt?«
»Mach es wie die Griechen. Bezieh die Mängel mit ein. Die Orte und die Zeiten, die nicht ins Bild passen. Die schwarzen Löcher in den Zeugenaussagen. Die widersprüchlichen Motive. Respektiere diese Unstimmigkeiten. Respektiere die Geschichte, die deine Akten erzählen! Und du wirst auf Erkenntnisse stoßen, die dich manchmal anderswohin führen. Eigentlich dürfte ich es dir
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