Im wilden Meer der Leidenschaft
Danach würden sie die Zwischenräume mit einer beißenden Mischung aus Talg, Öl und Schwefel neu kalfatern und verrottete Planken ersetzen. Sobald das Schiff gesäubert war, konnten sie dann mit den eigentlichen Reparaturen am Großmast beginnen, und die Calypso würde bald wieder so schnell und wendig wie eh und je sein.
Das müssten sie gerade rechtzeitig schaffen, um noch vor der Hurrikan–Saison wieder in europäischen Gewässern anzukommen. Sie waren schon zu lange hier, und Balthazar musste sich um einige Angelegenheiten in der alten Welt kümmern.
Doch seitdem er auf Vista Linda angekommen war, verspürte er nicht das geringste Verlangen, die Insel in der nächsten Zeit wieder zu verlassen. Zum ersten Mal seit – nun, eigentlich zum ersten Mal überhaupt – hatte er nicht den unablässigen Drang, immer weiter zu segeln, an unbekannten Ufern anzulegen und niemals an Ort und Stelle zu bleiben.
Plötzlich bemerkte er Dinge, die er vorher nie registriert hatte, wie die funkelnden Sonnenstrahlen auf dem Sandstrand, den süßen Duft der Kokosnüsse oder das Zwitschern der exotischen Vögel hoch oben in den Bäumen.
Seitdem er sein Leben hier mit Bianca teilte, die ihn mit ihren dunklen Augen ansah und ihm von Zeit zu Zeit ihr allzu seltenes Lächeln schenkte, kam er plötzlich zur Ruhe und konnte die Schönheit um sich herum genießen. Ihm war nach Tanzen, ja, nach Lachen zumute.
Lachen, jawohl! Und am besten den lieben langen Tag. Wann war ihm das schon einmal passiert? Wann hatte er je etwas zu lachen gehabt?
Er konnte in Biancas ernsten braunen Augen lesen, dass es ihr genauso erging. Er spürte, dass das besondere Band, das zwischen ihnen bestand, sich verstärkte, sich weiter um sie wickelte, und dass die Erinnerung an ihre schmerzhafte Vergangenheit allmählich verblasste. Wenn er mit ihr zusammen war, vergaß er nun immer öfter, wer er war, was er getan hatte, wer sie war. Er war sich nur noch der sinnlichen Verlockung bewusst, die die Insel auf sie beide ausübte, und spürte lediglich, dass sie ein Mann und eine Frau waren, die sich ihrer Leidenschaft hingaben. Balthazar und Bianca.
Er konnte sehen, dass dieser besondere Zauber auch auf sie wirkte. Genau wie er sehnte auch sie sich nach Heiterkeit und Vergessen. Und doch konnte sie sich noch nicht ganz von der Vergangenheit lösen. Konnte nicht loslassen und ihm alle Geheimnisse ihrer Seele offenbaren.
Und das hielt auch ihn zurück. Er hatte in seinem Leben schon so viele Menschen verletzt. Würde er auch sie verletzen? Den einzigen Menschen, den er bedingungslos beschützen wollte? Die Frau, die er verstehen wollte, deren Gedanken und Gefühle er jedoch nicht lesen konnte.
„ Maledetto !“, fluchte er und stampfte mit dem Fuß auf. Frauen waren ihm schon immer ein Rätsel gewesen und Bianca Simonetti ganz besonders.
Er zog sich sein weites Leinenhemd über den Kopf, griff nach einem der Schaber und bearbeitete die Algenkruste so heftig, als würde es sich um seine eigenen Zweifel handeln. Oder um seinen eigenen Zorn, der sich vor langer Zeit so fest um sein Herz gelegt hatte, dass er nun ein Teil von ihm zu sein schien. Er arbeitete, bis seine Schultern und sein Rücken schmerzten und ihm der Schweiß von der Stirn tropfte. Selbst als die heiße, blendende Inselsonne schon hoch am Himmel stand, schuftete er weiter.
Das war etwas, was er verstehen und kontrollieren konnte. Über dieses Schiff, über diese raue, wunderschöne Insel, hatte er die Herrschaft.
Doch nicht über Bianca. Ihr Körper reagierte auf seine Berührungen, doch ihre Gedanken konnte er nicht ergründen. Aber das würde sich bald ändern. Er würde sie dazu bringen, ihm ihre Vergangenheit zu offenbaren und ihm zu erklären, warum sie hier war. Er wollte verstehen, warum ausgerechnet sie, von allen Frauen, die er gekannt hatte, ihn so in ihren Bann zog.
Sie war nun auf seinem Gebiet. Und er würde seine Antworten schon bekommen.
Bianca öffnete den letzten Fensterladen und lehnte sich hinaus, um die Aussicht auf Vista Linda in der späten Morgensonne zu bewundern. Jedes Mal, wenn sie hinausschaute, kam ihr die Insel noch traumhafter vor; und sie genoss den Ausblick auf das smaragdgrüne Wasser und den tiefblauen Horizont, auf die winzigen Wölkchen, die wie makellose Perlen in einem Schmuckkästchen hoch oben am Himmel thronten. Dieser Ort war eine bezaubernde Oase der Stille, weit entfernt vom Tumult der restlichen Welt.
Von ihr aus könnte dies der einzige Ort
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