Im wilden Meer der Leidenschaft
überhaupt auf der Welt sein, dachte sie, als sie sich mit den Ellbogen auf das Fensterbrett stützte. Eine Welt, in der raffgierige Königreiche, Elend und Armut nicht mehr existierten. Sie konnte sich schon kaum mehr an den geschäftigen Lärm Santo Domingos, an die Taverne und ihre harte Arbeit dort erinnern. Und Venedig – lag so weit in der Vergangenheit wie ein Albtraum, der sich immer mehr im hellen Licht des Hier und Jetzt auflöste.
Sie wusste, dass sie sich eines Tages, wenn sie diesen Ort verließ, ihrer Vergangenheit wieder stellen musste. Doch das kümmerte sie jetzt nicht. Der Zorn und der Hass, den sie so lange in sich getragen hatte, die harten Bedingungen ihres Lebens, schienen unter der Sonne von Vista Linda dahinzuschmelzen, und sie fühlte sich glücklich und frei. Wie der Schwarm Vögel, der sich plötzlich aus den Baumwipfeln erhob und sich hoch in die Lüfte schwang.
Bianca streckte die Arme in die Höhe und stellte sich auf die Zehenspitzen. Sie genoss die ungewohnte Leichtigkeit und die weiche Brise, die sie umwehte. Sie trug weder ein Mieder noch Strümpfe, sondern nur ihr Unterkleid, das lose ihren Körper umspielte. Ihre Locken, die ihr bis auf den Rücken fielen, hatte sie lediglich mit einem Schal von Balthazar zurückgebunden.
Sie drehte sich solange um die eigene Achse, bis sie sich schwindlig in einen der Stühle fallen ließ. Letzte Nacht hatten Balthazar und sie die Möbel aufgedeckt und das breite Bett im oberen Stockwerk bezogen, bevor sie ein Abendessen aus Obst und Wein zu sich genommen und sich auf den frischen, sauberen Bettlaken geliebt hatten. Doch das Haus wirkte noch immer staubig und unbenutzt, so als ob es erst wieder neu bewohnt werden müsse.
Bianca griff nach den Resten ihres Abendessens und knabberte an einer Mangoscheibe, während sie den Raum kritisch beäugte. Ihre Truhen standen noch immer auf dem staubigen Boden, und das Porträt von Balthazars Mutter lehnte an der kahlen Wand. Balthazars kostbare Karten lagen zusammengerollt und übereinander gestapelt auf dem Tisch.
Aber wenn es etwas gab, worin sie gut war, dann war es die Fähigkeit, jeden Raum in ein behagliches Zuhause zu verwandeln. Jahrelang war sie von Ort zu Ort gezogen, und es schien immer die Aufgabe der Frau zu sein, eine Unterkunft einzurichten. Warum sollte ihr das hier nicht auch gelingen?
Und die Arbeit würde sie außerdem davon abhalten, darüber nachzudenken, warum sie eigentlich diesen Ort, der doch nicht ihr Zuhause war, gemütlich für Balthazar herrichten wollte.
Sie fand einen Besen in einer Ecke und begann, den Steinboden zu kehren. Während sie die Schmutzschicht entfernte, sah sie, dass der Boden darunter korallenrot war und einen warmen, weichen Kontrast zu den weißen Wänden und den dunklen Möbeln bildete.
Und wieder kam ihr Balthazars riesiges, elegantes Zuhause in Venedig in den Sinn, das im Vergleich zu diesem kleinen Haus so kalt und abweisend wirkte.
Sie verstand nun, warum Balthazar sich hier so viel wohler fühlte. Warum er diesen Ort, dieses Haus, diese Insel zu seiner Heimat erkoren hatte. Auch sie begann, sich hier zu Hause zu fühlen, und sowohl Balthazar als auch Vista Linda übten eine immer stärkere und unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie aus.
Als sie die letzte Ladung Dreck und Insekten nach draußen kehrte, wehten unten vom Strand, wo die Männer die Calypso seitlich umlegten, die Gesangsfetzen eines ihr gut bekannten Seemannslieds zu ihr herauf. „ Que hondo! Que hondo! Que hondo es el mar! “, sangen die Männer, und dieses Lied kannte sie schon aus ihren Seefahrertagen mit Juan Montero.
Sie lächelte und bewegte sich im Rhythmus der Melodie. Und war nun wohl tatsächlich von der Inselkrankheit befallen, denn bald sang sie und drehte sich mit dem alten Besen durch den Raum. Und während sie so tanzte, dachte sie an Balthazar und daran, wie elegant er sie durch den engen Schiffsbauch gewirbelt hatte. Wie er sie über einen Stapel zusammengerollter Seile gehoben hatte, als vollführten sie eine formvollendete Volta im Dogenpalast.
Sie schloss die Augen und stellte sich vor, sie trüge ein samtenes Ballkleid, Juwelen im hochgesteckten Haar, und tanze mit Balthazar im Licht tausender schmaler Wachskerzen. In einem eleganten marmornen Ballsaal, unter den neidischen Blicken der anderen Anwesenden …
Als sie noch ein junges Mädchen gewesen war, hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht. Und was wollte sie jetzt? Rache? Antworten? Balthazar
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