Im Zeichen der Angst Roman
anonymen Brief noch über mein Vorhaben. Er war Anwalt, und ich kannte seine Einstellung. Niemals hätte er erlaubt, dass ich mich außerhalb des Gesetzes bewege. Mein Vater jedoch vertrat die Meinung, dass man Menschen, die Kinder töteten oder sterben ließen, selbst töten durfte und dass keine Gefängnisstrafe hart oder gerecht genug sein konnte, ihre Schuld zu sühnen. Vielleicht rührte seine Rigorosität daher, dass er im Zweiten Weltkrieg aufgewachsen war und viele seiner Freunde in diesem Krieg umgekommen
waren. Und wenn sie nicht im Krieg gefallen waren, dann waren sie nach dem Krieg in den russischen Lagern gestorben. Oder in deutschen Gefängnissen, wie sein bester Freund Johnny 1951 in Bautzen. Die Generation meiner Eltern trug zu viele Tote in ihren Herzen mit sich. Ich aber wurde erst 1964 geboren. Dennoch waren meine Ansichten ähnlich rigoros wie die meines Vaters. Das war nicht immer so gewesen. Doch vielleicht lag es daran, dass mit dem Tod meiner Tochter ein Teil in mir zerbrochen war und tief unter den Trümmern dieser Katastrophe begraben lag.
Ich erinnerte mich genau an den Tag, an dem sie meine Tochter fanden. Der Winter war für hanseatische Verhältnisse überraschend kalt und schneereich gewesen. Doch an diesem Tag schmolz der Schnee in den Rinnsteinen. Es war der 21. Januar 1996, und als ich von ihrem Tod erfuhr, erstarb in mir jedes Empfinden. Ich brach nicht zusammen und ich schrie und weinte auch nicht.
In dem Augenblick, als ich Johanna mit ihrem schmerzverzerrten Gesicht in diesem fremden Parka und mit einem herabhängenden Schleifenband an ihren hellroten Winterstiefeln im Stadtpark liegen sah, wurde ich eine Andere. Eine, die ich nie zuvor gewesen war. Eine, die lebte und atmete, ohne es zu fühlen. Eine, die aß und trank, nicht, weil ich hungrig oder durstig war, sondern weil ich nur so überleben konnte. Und das allein zählte: mein Überleben, damit ich den Mörder meiner Tochter finden konnte. Innerhalb dieses Augenblicks zersprang ich und bestand nur noch aus einem einzigen Gefühl, dem übermächtigen Verlangen nach Rache, das sich wie ein schwerer Fels auf mein Herz und meine Seele legte und alles unter sich begrub. Ich wollte denjenigen, der für den Tod meiner Tochter verantwortlich war, weder vor Gericht noch hinter Gittern sehen. Ich wollte, dass er stirbt, und ich wollte, dass er durch meine Hand stirbt. So schwor ich meiner toten Tochter, sie zu rächen.
Doch als ich diesem Arzt meine Pistole an die Schläfe setzte
und er nur den einen Satz sagte und mir dabei fest in die Augen sah, wusste ich, dass Rache ein untaugliches Motiv war und ich niemals einem anderen Menschen das Leben nehmen könnte. Ich gehörte nicht zu der Generation meiner Eltern, die mit dem gewaltsamen Tod aufgewachsen war. Ich wurde in einer Zeit geboren, als ein bescheidener Wohlstand auch die damalige DDR erreichte. Als ich auf die Welt kam, kauften sich meine Eltern ihren ersten Berliner Roller und ließen sich für einen Trabant auf die Warteliste setzen.
Ich legte meine Waffe auf den Tisch. Ich entschuldigte mich nicht. Ich saß einfach nur schweigend vor ihm und starrte auf meine Hände. Und dann weinte ich, und der Mann, den ich noch Momente zuvor töten wollte, reichte mir ein Taschentuch, legte die Glock auf den Küchenschrank und kochte mir einen Pfefferminztee. Wir unterhielten uns sehr lange - und dann ging ich.
Die Waffe vergaß ich, als ich das Haus verließ, vermutlich aus lauter Angst, sie weiterhin mit mir zu tragen. Hätte der Mann mir nicht so ruhig und fest in die Augen gesehen, hätte ich ihn erschossen. Er wäre der Falsche gewesen - und dieser Gedanke ließ mich erzittern.
Ich legte den Artikel beiseite. Der nächste handelte von Kais Unfall. Es war ein sehr wohlwollender Artikel über mich und diesen neuerlichen Schicksalsschlag in meinem Leben. Ich kannte ihn. Claus, mein Chefredakteur, hatte ihn geschrieben, auch wenn er gewusst hatte, dass Kai und ich längst getrennt waren.
Ich sah ihn mir nicht weiter an, sondern betrachtete die Fotos. Eine Stahlzwinge umk lammerte mein Herz und presste es zusammen, bis ich das Gefühl hatte, es würde unter dem Druck aufhören zu schlagen.
Mein Blick streifte die Fotos, eines nach dem anderen. Ich erkannte alles sofort. Ich, Clara, bei meinem Prozess, ich nach
der Haftentlassung. Kai und ich bei der Taufe unserer Tochter Josephine. Meine Tochter am Tag der Einschulung mit ihrer Schultüte. Ich konnte nicht länger hinsehen.
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