Im Zeichen der Menschlichkeit
Groß ist die Enttäuschung, als sie in eine Kleinstadt Tausende von Kilometern hinter der Front beordert werden, wo sie Rekonvaleszente betreuen sollen. Doch nichts ist vorbereitet: »Im übrigen fehlte, kurz gesagt, alles«, empört sich von Oettingen. Für ihren Mann, den hochqualifizierten Chirurgen, sein Team und seine teuren Instrumente gibt es kaum etwas zu tun, und so verarzten sie die Bauern der Umgebung.
Nach zähen Verhandlungen werden sie weiter nach Osten verlegt. Wieder dampfen sie acht Tage lang durch die Taiga, erleben eine Burjatenhochzeit, mongolische Karawanen und die Aufführung einer chinesischen Oper. Von Wüstensand und Kohleruß bedeckt, erreichen sie schließlich Harbin, das Zentrum der russischen Aktivitäten in der Mandschurei. Dort folgt erneut eine wochenlange Wartezeit mit heftigem Depeschenwechsel. Eines Tages greifen die Russen zwei japanische Offiziere auf, die eine Eisenbahnbrücke sprengen wollten. Vor ihrer Hinrichtung stiften sie die tausend Rubel, die sie in ihren Taschen haben, dem Roten Kreuz.
Dann muss auf einmal alles ganz schnell gehen. Die Expedition rollt weiter gen Osten, wo sie im Garnisonsstädtchen Eho ein halbfertiges Lazarett bezieht. In acht Stunden ist die OP -Baracke betriebsbereit. Die Pfleger legen handwerkliche Talente an den Tag, der Schlosser singt Arien aus Tristan und Isolde . Kaum sind die Betten aufgestellt und die Vorräte im Eiskeller verstaut, liefert der erste Zug von der Front auch schon 218 Verwundete ab. Es folgen mehrere Tage fieberhafter Arbeit. Ein Verlauf, der typisch ist für Kriegseinsätze: Wochen erzwungener Untätigkeit wechseln mit Phasen höchster Beanspruchung. Nach der Schlacht bei Liaoyang reihen sich die Sanitätszüge in Harbin über eine Strecke von neun Kilometern aneinander. In Eho folgt eine Operation der anderen. »Heute meißelte mein Mann einen Schädel auf, zwei schwere Knochenbrüche wurden eingegipst, ein Schrapnell war in die Bauchhöhle gedrungen, und endlich erwies sich ein Bauchschnitt wegen Typhus notwendig.«
Mit Anbruch des Winters wird die Ambulanz schließlich nach Mukden beordert (heute Shenyang), die alte Kaiserstadt der Mandschu. Sie liegt direkt an der Front. »Ein Zischen, dann ein schwarzer Punkt in der Luft, und der Hagel rasselt herunter«, protokolliert von Oettingen. Da Erdbaracken noch am besten frostgeschützt sind, werden die Helfer zu Höhlenbewohnern. »Die ganze Gegend ist wie mit Maulwurfshügeln besät.« Das Lazarett wird ebenso in den Untergrund verlegt wie die orthodoxen Gottesdienste, so dass Schwester Elisabeth sich an die Urchristen in den Katakomben erinnert fühlt. Ein General inspiziert auf Krücken das Lazarett. Militärattachés, Kriegskorrespondenten und andere Ambulanzen geben sich ein Stelldichein. Die Helfer versäumen es auch nicht, den Geburtstag »des großen Meisters Ernst von Bergmann« zu feiern. Die Erdbaracke wird zu einem Stück Heimat.
An der Front haben sich die Armeen ebenfalls eingegraben. Mancherorts liegen sie nur tausend Schritt voneinander entfernt; ein frostiges Vorspiel zu den Grabenkämpfen des Ersten Weltkriegs. In immer größeren Massen treffen nun Verwundete ein, »Japaner und Russen in bunter Reihenfolge«. Von Oettingen schätzt die Gesamtzahl der in der Schlacht bei Mukden Verwundeten auf 60000. Wegen des hartgefrorenen Bodens können sie die Toten nicht bestatten, sondern müssen sie in Zelten stapeln. Doch so viele Zelte gibt es gar nicht.
Als die Stadt nicht mehr zu halten ist, muss auch das Lazarett evakuiert werden. »Trage folgte auf Trage.« Zum Abschied stimmt der Spielzug eines karelischen Regiments Muß i denn an. Einige Schwestern bleiben zurück, um sich und die nicht transportfähigen Verwundeten der Obhut des Japanischen Roten Kreuzes zu übergeben. Dabei stellt sich heraus, dass auch einer der dortigen Ärzte ein Schüler Ernst von Bergmanns ist.
Das heilige Feuer
»Ist denn niemand da, der zu den Japanern ginge?« In Heiden verfolgt Henry Dunant, zeitlebens ein passionierter Zeitungsleser, das Kriegsgeschehen in den internationalen Blättern. Zu den wenigen Menschen, die ihn zu dieser Zeit noch erreichen, gehört die junge Posthalterin Catharina Sturzenegger. Nach einem Unfall gehbehindert, ist sie zeitweise seine Zimmernachbarin im Krankenhaus. Kurz entschlossen macht sie sich auf, um in Japan für die Prinzipien des Roten Kreuzes einzustehen. Vier Jahre bleibt sie in Fernost, arbeitet als Kriegsberichterstatterin und erklimmt
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