Im Zeichen der Menschlichkeit
bezichtigt, die wenige Monate zuvor unterzeichnet worden ist. Die Front der Kritiker reicht von Leo Tolstoi bis zu Adolph Knagge, einem deutschen Farmer tief im australischen Busch, der in einem Brief an Moynier die »teuflischen Machenschaften der Engländer« anprangert. »Ich bitte flehentlich Eure Exzellenz, im Namen der Menschlichkeit solche Grausamkeiten nicht weiter zu dulden.« Auch wenn es nur eine kleine Begebenheit ist – sie zeigt, welche Autorität dem Internationalen Komitee zugeschrieben wird.
Wenn die Gefechte abflauen, rücken Küttners Leute mit ihren vierspännigen Ambulanzwagen aus, um Verwundete zu bergen, bevor die Hyänen kommen. Wobei die Schotten im Kilt leichter auszumachen sind als die Engländer in Khakiuniform. Damit niemand vergessen wird, suchen sie das Schlachtfeld nachts noch einmal mit Blendlaternen ab. Nachdem die Briten Jacobsdal endgültig erobert haben, macht sich die Expedition schließlich nach drei Monaten auf den Rückweg, in einem epischen Treck mit siebzig Zugtieren und Dutzenden von Verwundeten.
Von Windhuk bis Wladiwostok
Auch wenn die damaligen Einsätze jeweils aufseiten derjenigen Kriegspartei erfolgen, der die deutsche Regierung nähersteht, leisten die Hilfsexpeditionen beiden Lagern unterschiedslos Beistand. In Kriegen mit deutscher Beteiligung bestimmt hingegen Nationalismus das Handeln. Während des Boxeraufstands in China stachelt Wilhelm II. im Juli 1900 die auslaufenden Truppen mit seiner berüchtigten »Hunnenrede« an: »Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei in eurer Hand.« Von allerhöchster Stelle wird zum Bruch der Genfer Konvention und der Haager Landkriegsordnung aufgerufen. Die deutschen Rotkreuzorganisationen protestieren nicht etwa dagegen, sondern unterstützen die Strafexpedition nach Kräften. Allein in Halle sammelt der Frauenverein in wenigen Tagen über 30000 Mark »zum Besten der Chinakrieger«. Bis heute wird diese Beihilfe vom Roten Kreuz als »humanitärer Einsatz« deklariert.
Ein ähnlich grimmiger Enthusiasmus erfüllt die Öffentlichkeit 1904 beim Aufstand der Herero in Südwestafrika. Überall im Reich sammelt das Rote Kreuz zum Wohle der Kolonialtruppen. In Freiburg etwa appelliert es »an den vaterländischen Sinn der verehrlichen Einwohnerschaft« und bittet um Geld und Materialgaben: »Schaumweine, Cognac, Bier, Schokolade, Limonadepastillen, Tabak in jeder Form«. Die Spenden kommen ausschließlich den Soldaten und Siedlern zugute. Die Herero dagegen werden in die Wüste getrieben. Zehntausende sterben, nahezu das gesamte Volk wird ausgelöscht. Der spätere Außenminister der Weimarer Republik, Walther Rathenau, bezeichnet diesen Krieg als »die größte Atrozität (Grausamkeit), die jemals durch deutsche Waffenpolitik hervorgerufen wurde«. Weder vom Deutschen Roten Kreuz noch vom Internationalen Komitee sind Stellungnahmen bekannt. Die Völker der Kolonien gelten als Wilde, denen die Europäer keine Rücksicht schulden. »Daß ein Krieg in Afrika sich nicht nach den Gesetzen der Genfer Konvention führen läßt, ist selbstverständlich«, meint General von Throta, der den Vernichtungsbefehl gegeben hat.
Im gleichen Jahr begibt sich Elisabeth von Oettingen, Operationsschwester aus Berlin-Steglitz, an einen noch ferneren Kriegsschauplatz. Gemeinsam mit ihrem Mann Walter, einem Schüler des berühmten Chirurgen Ernst von Bergmann, reist sie sieben Wochen lang mit der Transsibirischen Eisenbahn bis in den Fernen Osten, wo Japan und Russland im Krieg miteinander liegen. Die deutsch-livländisch-russische Rotkreuzmission besteht aus fünf Ärzten, vierzehn Schwestern und zwei Dutzend Pflegern. Neben Röntgenapparat, Dunkelkammer und bakteriologischem Labor führt sie auch eine transportable Baracke mit sich, die überwiegend aus Pappe und Leinwand besteht und bei Bedarf als Operationssaal dienen kann.
Wald, Wald, Wald. Steppe, Steppe, Steppe. Und auf den Bahnhöfen ein faszinierend-irritierendes Völkergemisch. Obwohl man Elisabeth von Oettingen wiederholt versichert, dass infolge der Militärpräsenz nun weniger Raubmorde vorkämen, hält sie einen Revolver griffbereit. Da die Bahntrasse um den Baikalsee herum noch nicht fertiggestellt ist, wird der Zug auf eine Fähre von der Größe eines Ozeandampfers umgeladen. Dreißig Waggons finden im Bauch des Kolosses Platz. Nach den Aufregungen und Strapazen der Reise kann die Gruppe es kaum erwarten, endlich die Arbeit aufzunehmen.
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