Im Zeichen der Roten Sonne
ablegte und der Heiligen Insel entgegensteuerte.
Bei Sonnenuntergang erreichten wir das Ziel. Der Himmel war nur noch ein einziges Flammenmeer. Alles schimmerte in gedämpftem rötlichem Licht. Man hatte Fackeln angezündet. Stufe für Stufe trugen die Priesterinnen die Bahre mit der sterblichen Hülle der Königin die steile Treppe zum Heiligtum empor. An der Schwelle des ersten Absatzes trat uns die Hüterin des Feuers entgegen. Ihr Anblick erschütterte mich: Ihre ehemals aufrechte, schlanke Gestalt war gebeugt. Ihr weiÃes Gewand hing schlaff herab, so als wäre unter den Falten kein Körper mehr vorhanden. In dem von Runzeln durchzogenen Gesicht schimmerten die Augen wie von Rauch getrübt. Ich verneigte mich vor ihr; sie erwiderte stumm meinen GruÃ. Dann wandte sie sich ab und schritt an der Spitze des Zuges. Ich erinnerte mich an die Frage, die ich vor einem Jahr beim Verlassen der Insel gestellt hatte: »Wird es mir erlaubt sein zurückzukehren?« Die Antwort hallte in mir wie ein fernes Echo: »Ja, aber nur einmal.«
Sie wusste es also schon damals â¦, dachte ich schmerzerfüllt.
Endlich erreichte der Trauerzug den Innenhof. Vor dem groÃen Steinblock waren die Bodenplatten entfernt worden. Neben der freigelegten Gruft setzten die Frauen ihre Last ab. Die Schwefeldämpfe, die aus der geheimnisvollen Felsenöffnung drangen, hatten stark zugenommen. Die stickige Ausdünstung war kaum zu ertragen. Die Hüterin des Feuers reichte mir ein weiÃes Leinentuch, mit dem ich den Leichnam verhüllte. Erschüttert und gegen Ãbelkeit ankämpfend, beugte ich mich ein letztes Mal über das schöne, ruhige Gesicht meiner Mutter. Das feine Gewebe des Leinens schmiegte sich so eng um die Züge der Verstorbenen, dass ihr Antlitz, wie mit einer Perlmutterschicht überzogen, hindurchschimmerte. Man legte Schwert und Schild an ihre Seite, bevor die Priesterinnen die Bahre an Seilen hinablieÃen. Im Schwefeldunst sah ich meine Mutter, die Königin, in ihr Grab sinken wie in den schwarzen Abgrund der Vergangenheit. Zuletzt gaben ihr die Priesterinnen eine Anzahl kleiner Tonfiguren als Geleit. Diese Figuren stellten Angehörige und Diener dar, die in früheren Zeiten zusammen mit ihrem verstorbenen Herrscher lebend begraben worden waren.
Mit Rollen und Seilen zogen dann die zwölf Frauen die schwere Bodenplatte über das Grab. In dem Augenblick, als der Stein mit dumpfem Ton auf die Ãffnung fiel, stieg wie ein Widerhall ein Grollen aus dem Erdinnern auf. Der Boden vibrierte unter unseren FüÃen. Die Priesterinnen erstarrten, mein Herz schlug bis zum Hals. Deutlich vernahm ich das Knirschen der sich aneinanderreibenden Bodenplatten. Irgendwo in der Tiefe polterten Steine. Doch nach und nach verebbte das Beben. Als die Erde wieder fest und ruhig schien, brach die gefasste Stimme der Feuerhüterin die drückende Stille. »Es beginnt â¦Â«, sagte sie halblaut. »Es hat bereits begonnen â¦Â«
Im rötlichen Dunst schien sie zu ihrer einstigen GröÃe emporzuwachsen. Ihr faltiges Gesicht glättete sich, die Augen leuchteten in wiedergewonnenem Glanz. Sie wandte sich mir zu; zum ersten Mal sprach sie mich mit dem Königstitel an.
»Toyo-no-Mikoto, die zerrissenen Fäden sind nunmehr verknüpft. Das Schicksal unseres vereinten Volkes ruht in deinen Händen. Deiner Nachkommenschaft wirst du die Annalen der Vergangenheit übermitteln, denn die sichtbaren Zeugnisse werden für immer ausgelöscht werden. Geh jetzt und gedenke meiner Worte. Eine letzte Prüfung steht dir noch bevor â¦Â«
Ich wollte mehr wissen. Doch sie hatte einen Mund, der Geheimnisse bewahrte. Und so verbot ich mir jede Frage. Als sie die Hand hob, als Geste des Abschieds oder der Zärtlichkeit, verneigte ich mich stumm. Und das war alles. Mein Herz war voller Furcht, denn unter unseren FüÃen schien der Boden zu atmen, zu pochen wie ein lebendes Herz.
Es war verboten, die Nacht auf der Heiligen Insel zu verbringen. Die Beisetzung der Königin lieà keine Ausnahme zu. Noch am gleichen Abend verlieà das Boot die Insel und durchquerte die Bucht.
Es war eine milde, klare Nacht, der Himmel war übersät mit blassen, glänzenden Sternen. Nur das Plätschern der Ruder bewegte das dunkle Meer. Das leichte Schaukeln des Bootes wiegte mich ein. Ich schlummerte behaglich wie ein Kind in den Armen der Mutter,
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