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Im Zeichen der Roten Sonne

Im Zeichen der Roten Sonne

Titel: Im Zeichen der Roten Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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die Terrasse hinaus. Der Himmel glitzerte eisigblau. Wie goldener Dunst flimmerte das Sonnenlicht über Türme und Zinnen. An den Mauern schossen Schwalben wie kleine dunkle Schatten vorbei. Die Brände waren erloschen. Es duftete wie zuvor, nach kühlem Wasser und taufeuchten Gräsern.
    Lautlos bewegte ich mich zwischen den purpurnen Pfählen, die schräge Schatten auf die Bodenplatten warfen. An einen dieser Pfähle gelehnt saß regungslos ein Mann. Er hielt das Gesicht der Sonne entgegen, die Lider waren geschlossen. Lange betrachtete ich dieses Gesicht, das der Hass ebenso verwandeln konnte wie die Zärtlichkeit. Ich spürte das Verlangen, die Hand auszustrecken und dieses Gesicht, dieses Haar zu streicheln.
    Er schlug die Augen auf. Schaute mich an. Und in seinem Blick lagen so viel Verzweiflung, so unendliches Leid, dass ich glaubte, mein Herz würde zerreißen. Stumm starrten wir uns an. So verging eine lange Weile. Schließlich klatschte ich in die Hände. Zwei bewaffnete Wächter erschienen. Er rührte sich nicht. Sagte kein Wort. Nur seine Augen blieben unverwandt auf mich gerichtet. Ich senkte den Kopf und wendete mich von ihm ab. Mit tonloser Stimme befahl ich: »Man ergreife den Herrn Susanoo. Und lege ihn in Ketten.«

23
    D ie Totenwache für die Königin dauerte drei Tage. Dann begann die Zeremonie der Bestattung. Die Königin sollte auf der Heiligen Insel beigesetzt werden, doch allein den Priesterinnen war es erlaubt, ihr das letzte Geleit zu geben. Danach würde Amôda noch zehn Tage trauern. Während dieser Zeit war es Brauch, sich mit Reiswein zu betrinken und sich Ausschweifungen hinzugeben, die den allmächtigen Fortbestand des Lebens versinnbildlichten. Das ganze Volk war in Trauer vereint, denn Amôda hatte nicht nur den Verlust seiner Königin zu beweinen; zahlreiche Familien waren vom Tod ihrer Angehörigen betroffen worden.
    Vor Sonnenaufgang des vierten Tages wurde die sterbliche Hülle der Königin auf eine Bahre aus Birkenholz gelegt und von sechs Priesterinnen auf den Schultern getragen. Die Verstorbene war ganz in Weiß gekleidet. Ihre Füße waren nackt und sie trug keinerlei Schmuck. Einzig das Heilige Eichenblatt stak in ihrem ebenfalls weißen Stirnband, als Zeichen ihrer Verbindung mit der Unsichtbaren Welt. Wie blau schimmerndes Gefieder lag ihr wundervolles Haar um ihr gepudertes Antlitz.
    Zu beiden Seiten der Verstorbenen schritt in voller Waffenausrüstung die königliche Leibgarde. Ich ging allein hinter der Bahre, gekleidet in grobes Leinen. Mein Gesicht war ungeschminkt, mein Haar mit weißen Bändern verschnürt. Wie es der Brauch wollte, trug ich die »Tama«-Steine der Verstorbenen an meinen eigenen Handgelenken.
    Hinter mir schritt Kuchiko, der das Schwert der Königin und ihr Schild trug. In kurzem Abstand folgte, angeführt von Majestät-Wächter-des-Mondes, der feierliche Zug der Adligen, Würdenträger und Vasallen der einundzwanzig Provinzen. Und wie es üblich war, schlossen sich die Einwohner von Amôda dem Leichenzug an, sobald die Bahre an ihnen vorbeigetragen worden war.
    Als der Zug in vollkommener Stille zum Meer hinabstieg, erhob sich ein merkwürdiger Lärm. In allen Schmieden hämmerten Männer mit wuchtigen Schlägen auf die Ambosse. Das helle, harte Klingen erfüllte die Luft, und ich dachte, dass der in der Finsternis des Kerkers angekettete Mann es ebenfalls hören musste.
    Der Strand war von den Spuren des Kampfes gesäubert worden. Die Sonne am Horizont glich einer riesigen blassen Kugel. Trotz des frühen Morgens lastete die Hitze über dem farblosen Wasser. Im Hafen ließen die fünfundzwanzig Schiffe von Nimana ihre Segel wie welke rote Blütenblätter hängen.
    Man hatte ein Boot vorbereitet, das aus einem ausgehöhlten Eichenstamm gefertigt worden war. Vor den Augen der schweigenden Menschenmenge wateten die Priesterinnen durchs niedrige Wasser. Die Bahre hielten sie hoch über ihre Köpfe, damit das Volk sie zum letzten Mal sehen konnte. Dann hoben sie die Bahre in das wartende Boot. Sechs andere Frauen ergriffen die Ruder. Ich bestieg als Letzte das Boot und nahm auf einem weißen Kissen Platz. Da, mit einem Mal, brach das Hämmern ab. Die Stille wurde beinahe vollkommen. Nur vereinzeltes Schluchzen war zu hören, das Knarren der Ruder und das Plätschern des Wassers, als das Boot langsam vom Ufer

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