Im Zeichen des Adlers
liefen.
»Nun geh schon«, sagte Paolo Goldini rauh. »Und komm wieder, wann immer du willst - nur . tu es bald, ja?«
»So bald wie möglich«, erwiderte Lucia, kaum verständlich. Rückwärts gehend und mit kleinen Schritten entfernte sie sich, bis sie sich in die Reihe der wartenden Passagiere am Abfertigungstresen einreihen konnte. Die Eltern verschwanden in der Menge - und Lucia fühlte sich nicht halb so gut, wie sie es sich seit Wochen vorgestellt hatte, wenn sie an ihren ersten Schritt in ein neues Leben dachte.
Paris und das Studium dort hatten zwar nichts von ihrem Reiz verloren - aber der Abschied von ihrer Familie und von Rom waren schlimmer, als sie es vermutet hatte. Obwohl - das traf den Punkt noch nicht einmal richtig: Denn im Grunde genommen hatte sie diesen Abschied in all der Zeit stets aus ihren Gedanken verbannt, eher unbewußt denn mit Absicht. Jetzt wußte sie, warum ...
Die Formalitäten an der Abfertigung gingen rasch vonstatten, die beiden Koffer entschwanden auf dem Transportband, und wenig später saß Lucia auf einem leidlich bequemen Stuhl in einem der Warteräume des Flughafens Leonardo da Vinci, der in Fiumicino lag, knapp dreißig Kilometer nördlich von Rom.
Der Flug nach Paris konnte nicht ganz ausgebucht sein, denn die Anzahl der Menschen, die darauf warteten, in die Maschine einsteigen zu können, war überschaubar. Zum allergrößten Teil schien es sich um Geschäftsreisende zu handeln. Viele der gutgekleideten Männer, die meisten im sogenannten besten Alter, waren in irgendwelche Akten oder Wirtschaftsmagazine vertieft - - nur einer fiel aus der Reihe ...
Lucia fröstelte, ohne recht zu wissen, weshalb.
Sie wollte den Blick abwenden von jenem einen Mann, aber sie konnte es nicht. Als hielte etwas wie eine unsichtbare Hand ihr Kinn fest, die es ihr unmöglich machte, den Kopf zu bewegen.
Der andere erwiderte ihren Blick. Auf so eigenartige Weise, daß Lucia sich von seinem Blick förmlich berührt, beinahe seziert fühlte.
Das Gefühl währte so lange, bis der Mann lächelte. So übergangslos, als hätte er dieses Lächeln buchstäblich angeknipst.
Lucia verzog ebenfalls die Lippen, doch verriet ihr Lächeln vor allem Unsicherheit und - ja, was eigentlich?
Wieder schauderte sie. Aber diesmal war es nicht von unangenehmer Art; eher rührte es von einem hitzigen Schauer her, der sie durchlief, plötzlich und so heftig, daß Lucia unruhig auf ihrem Sitz hin und herrutschte.
Der Mann dort unterschied sich von den anderen. Seine Erscheinung ließ ihn nicht unbedingt wie einen Geschäftsmann wirken. Er machte einen - Lucia suchte nach dem richtigen Wort, fand es nicht und entschied sich dann für - exotischen Eindruck mit seinem langen dunklen Haar, seinem bronzenen Teint und seinen fremdartigen Zügen.
Fast wie ein Indianer, meinte Lucia im Stillen. Nur sein teurer Anzug stand diesem Vergleich entgegen. Aber das Mädchen ertappte sich bei der Vorstellung, wie der Mann wohl in der traditionellen Kleidung eines Indianerstammes aussehen würde.
Am besten, dachte sie, nur mit einem Lendenschurz bekleidet - oder mit noch weniger .
Noch immer gelang es ihr nicht, den Blick von ihm abzuwenden, obwohl sie sich selbst von ihm bei ihren sündigen Gedanken erwischt fühlte. Zumindest aber schaffte sie es, die Lider zu schließen, als sie errötete - und noch unruhiger wurde.
Ganz kurz dachte sie an ihren Vater, und das ernüchterte sie für den Moment. Er hätte sie vermutlich umgebracht oder zumindest in den Keller geschleift und dort im hintersten Verschlag eingesperrt, hätte er gewußt, was sein Töchterlein sich gerade ausgemalt hatte. Denn damit entsprach sie ziemlich genau seinen Vorstellungen davon, was sie in Paris treiben würde - und nun war es schon auf dem Flughafen von Rom soweit .!
Wieder meinte Lucia, von etwas Unsichtbarem berührt zu werden. Es hob ihre Lider, gegen ihren Willen, und von neuem begegnete ihr Blick dem des Fremden, der wie das fleischgewordene Klischee des Latin Lovers aussah. Aber da war noch etwas an ihm - etwas, das ihn wie das Gegenstück zu einem Glorienschein zu umgeben schien: dunkel anstatt hell, alles Licht schluckend; etwas wie ein - Lucia konnte es nicht anders bezeichnen - unsichtbarer Schatten, der nichts mit dem Lichteinfall zu tun hatte.
Einen zeitlosen Moment lang wünschte Lucia sich, der andere möge zu ihr herkommen, um sich auf den freien Platz neben ihr zu setzen; zugleich aber fürchtete sie sich davor, er könnte es
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