Im Zeichen des Adlers
Überzeugung: »Sie müssen sich wohl in der Tür geirrt haben.«
»J-ja, n-natürlich«, erwiderte Lucia. »Mi... mi dispiace. Scusi, Signor ...«
Wie um alles in der Welt, fragte sie sich, bin ich nur hier hereingekommen?
Ebenso verzweifelt wie verwirrt blickte Lucia um sich. Die Situation war ihr unendlich peinlich. Und es wurde noch schlimmer, als sie sich bewußt wurde, daß sie fast nackt zwischen den Waschbecken saß. Eilig rutschte sie von den Fliesen herunter und versuchte fahrig, ihre Kleidung in Ordnung zu bringen.
»Gehen Sie jetzt«, forderte der Knabe sie auf, »und - vergessen Sie, was hier geschehen ist, ja?«
»Geschehen? Was soll geschehen sein?« fragte Lucia mit nicht gespielter Naivität.
»Eben - gar nichts.«
Der Junge öffnete die Tür und wies hinaus. Lucia ging, aber weder beeilte sie sich, noch wirkte sie, als würde sie sich für etwas schämen. Sie erweckte ganz den Anschein, als sei nichts gewesen - und genauso war es für sie auch .
*
Gabriel schloß die Tür und wandte sich dann Hidden Moon zu. Der Arapaho kauerte nach wie vor in der Ecke, in die er geschleudert worden war, und er erinnerte noch immer an ein Tier - nicht mehr jedoch an eine entfesselte Bestie; eher an einen geprügelten Hund, der Angst vor seinem Herrn hatte.
Und tatsächlich trat der Knabe nach Hidden Moon! Die Wucht des Trittes ließ ihn sich regelrecht zusammenkrümmen. Doch als er wieder aufsah, glänzten kaum verhalten Zorn und Haß in seinen dunklen Augen.
»Bist du vollends von Sinnen?« fuhr Gabriel ihn an. Seine Stimme widersprach seinem Äußeren, war die eines Erwachsenen, dunkel und dröhnend zugleich. »Habe ich dir nicht klare Order gegeben, was dein Verhalten anbelangt?«
»Ja«, antwortete der Arapaho, »das hast du. Aber ich konnte nicht widerstehen - dieses Mädchen war so verlockend .«
»Vielleicht sollte ich dich kastrieren«, überlegte der Knabe ganz ernsthaft, »gleich hier und jetzt. Vielleicht besinnst du dich dann darauf, deinen Kopf zum Denken zu benutzen und nicht deinen -«
»Es wird nicht wieder vorkommen«, beeilte sich Hidden Moon zu versichern.
»Dafür werde ich ohnehin Sorge tragen. Keine Sekunde werde ich dich mehr aus den Augen lassen«, erklärte Gabriel. »Ich habe dich nicht aus purer Freundlichkeit mit unauffälliger Garderobe ausstaffiert - du sollst darin auch unauffällig bleiben. Ich möchte kein Aufsehen, weder hier noch jetzt. Alles zu seiner Zeit .«
Er wies bezeichnend auf die Kleidung des Arapaho; das Hemd stand offen, die Hose hing ihm um die Knie.
»Zieh dich endlich an, und dann laß uns gehen. Es wird Zeit. Das Flugzeug nach Paris wird nicht auf uns warten - weil man nicht weiß, welch hoher Gast sich die Ehre gibt.«
Hidden Moon tat, wie ihm geheißen. Auf einen prüfenden Blick in den Spiegel mußte er seiner Natur gemäß verzichten. Das geschliffene Kristallglas zeigte nur Gabriel, nicht jedoch ihn, den Vampir, der er nach wie vor war - wenn auch gänzlich aus der Art geschlagen .
... seit der Odem der Hölle ihn gestreift hatte. Ein mysteriöses Tor war in den Tiefen des Bergklosters Monte Cargano geöffnet worden, für ganz kurze Zeit nur. Der Sog des Höllenschlundes hatte Lilith Eden und ihren Erzfeind Landru verschlungen, Hidden Moon jedoch hatte der Kraft widerstanden. Dafür aber hatte ihn die finstere Macht vergiftet und zu ihrem Diener gemacht, als der er aus Monte Cargano entkommen war. 4
Dreihundert Jahre lang war Wyando, wie der Arapaho von seines Stammesgeschwistern genannt wurde, der dunklen Triebe eines Vampirs ledig gewesen, weil sein Seelenadler das Böse gleichsam aus ihm gefiltert hatte. Vor einiger Zeit hatte Lilith Eden diese Rolle übernommen - sie hatte zwar Hidden Moons Adler getötet, doch dessen Aufgabe war auf sie übergegangen.
Solange sie also in seiner Nähe war, konnte der Arapaho alles Böse in Lilith ableiten; nun aber war sie verschwunden, unerreichbar fern - und Hidden Moon der Macht des Anti-Christen selbst ausgeliefert.
In der Umgebung des Klosters hatte der Vampir ausgeharrt, dem Flüstern seines vergifteten Blutes gehorchend. Bis dieses Flüstern ihn zurück nach Monte Cargano gerufen hatte, wo sein neuer Herr ihn erwartete -- das Kind. Gabriel. Der Leibhaftige!
In Adlergestalt hatte er seinen Meister dort aufgenommen, der sich selbst verwandelt hatte ins Sinnbild der Unschuld - in ein Zick-lein -, und ihn fortgetragen. 5 Nach Rom, wo sie nun ein paar Tage zugebracht hatten, in denen Gabriel einige
Weitere Kostenlose Bücher