Im Zeichen des Adlers
sie um und begrabe sie mitsamt dem Zeichenstift unter meinem Gewicht. Dabei spüre ich die todbringende Klaue des Seelensaugers für einen eisigen Sekundenbruchteil an meiner Schulter. Der Verlust eines Quentchens an Kraft wird sich erst später bemerkbar machen.
Doch es geht hier nicht um mich, sondern um die junge Frau, die ich retten will. Der Seelensauger hat bereits viel ihrer Energie an sich gerissen, aber zum Glück immer noch zu wenig, um sie zu töten.
Die Frau läßt einen erschrockenen Laut hören. Ihr Portrait lugt zerknickt unter meinem Körper hervor, und obwohl ihr Gesicht nicht in meinem Blickfeld ist, spüre ich ihren Blick auf mir.
»Passen Sie doch auf!« schneidet ihre vorwurfsvolle, vor Erschöpfung bereits dünne Stimme in mich hinein, während ich mich wieder taumelnd aufrichte und absichtlich wie ein Betrunkener herumlalle.
Das ist nicht fair, Lady. Ich habe dein Leben gerettet.
Ich spüre den Haß des Seelensaugers fast wie greifbaren, giftigen Dampf in der Luft. Seine Gier hatte sich hochgeschaukelt, hatte kurz vor der tödlichen Explosion gestanden.
Der lebende Leichnam faucht mich an, doch die Blinden, zu denen auch die Frau gehört, vernehmen nur folgende Worte: »Sie haben wohl zuviel Luft aus dem Glas gelassen, was, Mister?« Die humorvolle Besorgnis des jungen Künstlers wird von einigen Passanten, die die Szene beobachten, mit einem amüsierten Lachen aufgenommen.
Es ist schwer, die Gefühle zu beschreiben, die sich in einer einzigen Sekunde verfärben wie ein Chamäleon. Da ist Trauer, die sofort in bittere Verzweiflung übergeht. Alles in mir schreit nach Hilfe. Verdammt, hört doch endlich auf zu lachen! Ihr wißt nichts, nur das, was euch vorgegaukelt wird!
Meine schmerzende Verzweiflung verwandelt sich schließlich in Zorn auf meine Mitmenschen, von denen mich doch Welten und Wissen trennen.
Der Seelensauger entschuldigt sich bei seiner Kundin, welche mir immer noch mißlaunige Blicke zuwirft.
»Tut mir leid, Miss. Das Bild ist wohl hin.« Sein Lächeln vertreibt den Unmut aus ihrer Stirn. Freundlich winkt sie ab. »Ist ja nicht Ihre Schuld. Wir können gerne noch mal von vorne beginnen.«
Das Ding läßt die weißen Zähne seiner Maskerade blitzen und nickt. »Na klar. Aber zuerst bringe ich unseren Freund an einen si-cheren Ort, damit er nicht wieder den Boden küßt.«
Die untote Kreatur faßt nach meiner Hand, scheinbar um mich zu stützen. Widerwillig versuche ich sie abzuschütteln, doch mein Gegner hält mein Gelenk wie mit einer Stahlklammer fest.
»Wo wohnen Sie denn?« stellt er eine unglaublich banale Frage, während er mir haßerfüllt Energie entzieht.
»Ich . in . in Upney«, stammele ich, diesmal mehr aus wachsendem Entsetzen denn aus Verstellung. Ich bin von unzähligen Menschen umgeben und dennoch hilflos! Mein Feind beginnt bereits, mich auszuweiden. Wie es ein hungriger Panther tut, der seine wehrlose Beute niedergestreckt hat und nun seine Krallen in das Fleisch schlägt. Und alle um uns herum sehen doch nur einen begabten jungen Künstler, der einen alten Säufer hilfsbereit zur nahen U-Bahn-Station geleitet.
Wie überaus sozial von ihm! Jung hilft Alt! meldet sich eine vor Zynismus beißende Stimme in mir.
»Oh, Upney! Dann können Sie ja von hier aus direkt in die District Line einsteigen und durchfahren!«
Wir bahnen uns einen Weg über den sonnigen Platz. Ich spüre, wie meine Kräfte erlahmen. Hemmungslos trinkt der Seelensauger meine Lebensenergie. Die Frau, die irgendwo hinter uns zurückbleibt, wurde nur langsam angezapft. Ich jedoch werde innerhalb von Augenblicken all meiner Energien beraubt.
Handle! schreit alles in mir.
Unendlich langsam trotten wir über den Trafalgar Square, damit ich dann spätestens am Bahngleis entkräftet zusammenbreche und an Herzversagen sterbe. Und jeder von den Leuten hier würde bezeugen, daß ich bereits stark betrunken war und daß mir der nette junge Mann nur geholfen hat, in die U-Bahn zu gelangen .
Unendlich müde hebe ich meinen Kopf. Heiß und trocken brennt sich die Sonne in mein zerfurchtes Gesicht (sind meine Falten nicht schon tiefer geworden?).
Ich sehe meinem untoten Feind direkt in die schwarzgrinsende Fratze und begreife endlich.
Er weiß, wer ich bin! Über welche Gabe ich verfüge! Es war eine Falle, nur für mich!
Diese Erkenntnis verleiht mir blitzartig wieder Willenskraft. Ja, er will mich töten, so schnell es geht. Obwohl ich meine Umwelt nicht von den Schrecken überzeugen
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