Im Zeichen des Adlers
mich herum um kein einziges Detail verändert. Noch immer genießt jeder den Sommer! Und noch immer läßt die junge Frau sich töten.
Ich muß eingreifen! Ich bin der einzige, der die beinahe perfekte Illusion des Ungeheuers zu durchschauen vermag. Der einzige ...
Ruckartig erhebe ich mich und schlendere unauffällig auf den Mörder und sein Opfer zu, wobei meine Haut wie von tausend Ameisenbissen brennt. Nur unter Aufbietung meiner gesamten Kraft kann ich mich davon abhalten, loszustürmen und die untote Kreatur zu vernichten. Aber wie würden hundert Menschen reagieren, wenn ein älterer Mann wie ich eine Waffe zieht und einem Künstler, der doch nur eine junge Frau porträtieren will, sechs Kugeln zwischen die Augen jagt? Abgesehen davon, daß das Geschöpf vor mir bereits lange tot ist und nie mit solchen Projektilen zu vernichten wäre.
Ich blinzele gegen die Sonne, und für Sekundenbruchteile ist es, als habe man zwei völlig konträre Dias überblendet: Das erste zeigt den lebenden Leichnam in seiner ganzen Scheußlichkeit, das zweite das sonnengebräunte Gesicht eines blonden jungen Mannes, wobei das zweite direkt auf das erste projiziert wird und dieses schließlich völlig auslöscht.
Die Sonne läßt die moosgrünen Augen des Mannes ansehnlich schillern. Sein Lächeln betont markante Wangenknochen. Ein Traumtyp. Und in Wahrheit ein Alptraum.
»Sie sind sehr geduldig, Miß«, sagt er heiter zu seiner Kundin -seinem Opfer - und nickt ihr anerkennend zu. Die Sterbende, die weiterhin Lebensenergie in Form hauchdünner Rinnsale verliert, freut sich sichtlich über das Kompliment ihres Henkers.
»Danke!« Ihr verlegen gesenkter Blick kann nicht verleugnen, daß sie ihr Gegenüber sehr anziehend findet. »Aber was tut man nicht alles für die Kunst ...?«
Ihr Mörder lacht, und die Lüge seines Aussehens zerbricht wie sprödes Glas - allerdings nur für mich. Das Lachen ist jetzt das hungrige Knurren des Monstrums. Die grellweißen Augen weiten sich.
Übelkeit schwappt in mir hoch. Schweratmend fahre ich durch mein schweißverklebtes, schütteres Haar. Ich bin bereits über Sechzig; viel zu alt, um den einsamen Krieg noch weiterführen zu können, dessen Schlachten doch erst begonnen haben.
Schon als Junge habe ich sie erkannt - die Seelensauger. Und ich habe viel über sie in Erfahrung gebracht in all den Jahren.
Diese Wesen waren einst Menschen, die irgendwann im Laufe ihrer von Zweifeln und Ängsten geprägten Existenz dem Schattenreich anheim fielen. Unfähig, an ein Dasein nach dem Tode zu glauben, besessen von der scheinbar ewigen Macht der Materie, fehlgeleitet im Denken, jegliches Bewußtsein wäre unweigerlich an das Fleisch gebunden und ende mit dem Tod, riefen sie dunkle Mächte an, um unsterblich zu werden und ihre Gedanken und Gefühle aufrechtzuerhalten.
Und in dieser so oft durchlebten Situation der lähmenden Hilflosigkeit erinnerte ich mich an das Zitat eines englischen, längst verstorbenen Dichters, das genau den fatalen Fehler jener Wesen begreift, die einst Menschen waren:
»Und muß der Mensch auch werden zu Staub, muß die Hülle auch verblassen, müssen Bäume opfern Ihr Laub, keine Gewalt vermag des Menschen Seele zu fassen. Denn sie ist ewig und wahr, und so ist Gott.«
Jene Zweifler konnten nicht die uralten Gesetze von Leben und Tod durchbrechen. So wurden sie zu lebenden Toten, von einer widernatürlichen Kraft durchpulst. Sie verloren genau das, was sie durch ihren blasphemischen Trotz retten wollten: ihre Lebendigkeit, ihre Seele. Ihr Unvermögen, außer Haß und Hunger eigene Emotionen zu entwickeln und zu spüren, treibt sie zur Jagd nach uns Menschen und somit nach unseren Gefühlen. Sie sind wie Psycho-Vam-pire. All die Stimmungen, die uns Menschen prägen, wie Angst, Liebe, Haß, Freude, Trauer, Zuversicht, Neid, Reue oder Wut sind ihre Nahrung, denn sie selbst haben durch ihren Pakt mit der Finsternis genau jene Eigenschaften verloren.
Und die Tische sind in jeder Weltmetropole üppig gedeckt. Auch hier in London. Und erst recht hier am Trafalgar Square, wo die ausgelassene Freude der Menschen greifbar in der Sommerluft sprüht. Wenn doch die Millionen müder und kraftloser Menschen überall auf der Welt wüßten, was der wahre Ursprung ihrer Erschöpfung ist ...
Entschlossen atme ich ein und gehe dann direkt auf den Seelensauger und sein Opfer zu. Zu lange habe ich bereits gezögert.
Ich mime einen Betrunkenen und stolpere direkt auf die Staffelei zu, reiße
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