Im Zug (German Edition)
eigene Duft nach Jugendlichkeit und Unreife stieg ihr betörend in die Nase und spülte Helens ganze Rationalität fort. Alles, was sie in diesem Moment empfinden konnte, war ein unendliches Mitleid mit diesem verzweifelten Kind. An Maggie, die offensichtlich verpasste Möglichkeit, Oxford zu erreichen, an die rätselhaften, sich wiederholenden Zugwaggons, an all das verschwendete die Historikerin auf einmal keinen Gedanken mehr. Es gab nur noch das kleine Mädchen, dessen Namen sie nicht wusste, und die Seelenpein, die es zu mildern galt.
Gewiss hing das mit der Mutter der Kleinen zusammen. Vielleicht … vielleicht war sie ebenso verschollen wie der Zugschaffner, die Zugtoilette und alle möglichen anderen Dinge in diesem geradezu verhexten Zug …?
Helen ertappte sich dabei, wie sie eine ganze Weile lang dummes, bedeutungsloses Zeug in die kleinen Ohren des Mädchens wisperte, doch offenbar wirkte das sehr besänftigend auf das verstörte Kind.
Nach einer geraumen Zeitspanne, die beide nicht zu messen imstande gewesen wären, löste sich das jetzt wirklich zerrauft und unfrisiert aussehende Mädchen ein wenig von der älteren Frau und ließ es dann bereitwillig zu, dass Helen mit einem Taschentuch die Tränen trocknete, die reichlich geflossen waren. Die Wangen der Kleinen waren ganz rot, und die Augen dunkel gerändert. Sie sah, bei nahem betrachtet, recht kläglich und derangiert aus.
Was Helens Fürsorglichkeit eher steigerte als abschwächte.
Gott, sie konnte doch das Mädchen nicht einfach hier alleine lassen! Das war unmöglich! Sie würde also wenigstens eine Weile bei der Kleinen bleiben, bis sie sich beruhigt hatte. Dann konnte sie immer noch in ihr Abteil zurückkehren und versuchen, Maggie über das Handy zu erreichen.
„Sag mir doch mal, wie du heißt“, schlug sie sanft vor. „Ich bin Helen.“
„...toria...“, schniefte die Kleine erstickt.
Die Historikerin konnte ein unwillkürliches Schmunzeln nicht unterdrücken. Neckend erkundigte sie sich: „Wie? Du hast nur einen halben Namen?“
Das brach das Eis endgültig. Das noch rundliche Mädchengesicht wurde von einer Reihe widerstreitender Emotionen überzogen, dessen früheste ein wenig kindlicher Trotz war, der bei dem blonden Engel einfach hinreißend wirkte. Schließlich verfestigten sich die Gefühle auf den Gesichtszügen zu einem unsicheren Lächeln. Das Kind schluckte, schniefte wieder, putzte sich dann dankbar mit Helens Taschentuch lautstark die Nase und wiederholte dann, etwas klarer und die Fassung zurückgewinnend: „Victoria. Ich bin Victoria .“
Nach einem Moment der Überlegung und des beiderseitigen Schweigens fügte sie noch bangend hinzu: „Hast du meine Mum gesehen?“
„Leider nicht“, gab Helen bedauernd zurück.
Dann erst ging ihr auf, wie dumm diese Antwort eigentlich war – unter normalen Umständen. Denn schließlich wusste sie ja nicht, wie Victorias Mutter aussah. Allerdings … die Umstände waren nicht normal, und wenn es sich tatsächlich so verhielt, wie Helen inzwischen glaubte, dann gab es offenbar im ganzen Zug kein menschliches Leben außer ihnen. Darum war, bezogen auf die Situation, die Antwort durchaus nicht falsch.
Ehe Helen das ergänzen konnte, redete die kleine Victoria einfach weiter. Nun, sprechen war gut, sie sprudelte geradezu wie ein Springbrunnen. All die Angst der unklaren verstrichenen Zeit der Einsamkeit brach sich nun Bahn in einem Schwall unaufhaltsamer Sätze.
„Mum sagte, sie geht nur mal kurz auf die Toilette und ist gleich wieder da“, sagte Victoria und wurde während des Redens immer lebhafter, fast atemlos. „Und ich dachte: klar, kein Problem. Ich bin doch schon sechs Jahre alt, weißt du, und ich bin ein kluges, aufgewecktes Mädchen, und da kann man mich schon alleine lassen. Man muss nicht immerzu auf mich aufpassen …“
„Davon bin ich überzeugt …“
„... und weil ich mich so langweilte, schaute ich aus dem Fenster und sah die Häuser vorbeisausen und die Lichter, also habe ich mich nicht richtig gelangweilt … und dann gab es da diesen Ruck , weißt du?“
„Ruck?“ Helen fühlte ein kaltes Rieseln im Rücken.
Ja, einen Ruck hatte sie auch verspürt. Das war der gewesen, der sie aufgeweckt hatte. Aber … aber …
Ein verstörender Gedanke huschte kurz an die Oberfläche des Denkens, doch bevor Helen ihn verstehen konnte, war er schon wieder verschwunden. Ein Gedanke, der irgendetwas mit diesem Ruck zu tun hatte. Einem Ruck, den sie
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