Im Zug (German Edition)
ständig, so dass das Mädchen den Vater relativ selten sah, wie es schien, nur für wenige Wochen oder Monate im Jahr, kaum zusammenhängend. Vicky tat diese bedauerliche Tatsache allerdings mit wenigen Worten ab und verharrte dann viel mehr beim Verhältnis zu ihrer Mutter. Denn die Konsequenz dieses unsteten Lebens resultierte natürlich darin, dass die kleine Vicky, die dauerhaft bei der Mutter blieb, sich weitaus stärker an sie gebunden fühlte als an ihren Vater. Sie begleitete Antonia Mariakis auf ihren Reisen, wie jetzt eben auch.
Da Themistokles Mariakis derzeit einen wichtigen Auftrag in Rom zu erledigen hatte, waren Antonia und ihre Tochter alleine per Zug nach Oxford gefahren, wo die Modenschau stattfinden sollte, auf der Antonia neue Winterkleidung zu präsentieren hatte.
Nur sah es jetzt so aus, als würde diese Modenschau niemals stattfinden …
Helen warf einen verstohlenen, nervösen Blick auf ihre Uhr.
Verdammt, natürlich noch immer 23.46 Uhr.
Das war so völlig verrückt. Sie hatte so sehr gehofft, das alles würde sich jetzt irgendwie als abstruser Irrtum entpuppen. Aber ungeachtet von Victorias lebendiger, sehr beruhigender Gegenwart hörte dieser Alptraum einfach nicht auf.
Wie lange mochte er jetzt schon währen? Das war unmöglich festzustellen.
Ein Ruck durchfuhr das Abteil.
Wieder einmal.
Helen konnte sich nicht erinnern, wie oft sie in letzter Zeit diesen Ruck verspürt hatte, aber je länger sie sich nun darauf konzentrierte, desto deutlicher merkte sie, dass er tatsächlich in gewissen, freilich unklaren, weil unbestimmbaren Abständen immer wiederkehrte. Ein stets gleich bleibender Ruck, der auf bestürzende, unerklärliche Weise heftiger schien als sonst üblich.
Na ja, es gab doch wohl ziemlich viele Schwellen zwischen London und Oxford, warum wunderte sie sich dann darüber, in diesem altmodischen Rumpelzug so etwas zu spüren? Dennoch … dennoch konnte Helen Edwards sich von dem Gedanken nicht frei machen, dass dieser Ruck eine furchtbare Bedeutung besaß.
Welche auch immer …
„Und wie ist das mit Schule?“, fragte sie hastig, um sich von den verstörenden, fruchtlosen Gedanken um diesen Geisterzug freizumachen. Ablenkung! Das war das Wichtigste, was es in dieser Situation zu finden galt – bevor sie doch noch den Verstand verlor …
„Schule?“ Die kleine Vicky blinzelte eulenhaft und unterdrückte mühsam ein Gähnen. So allmählich schien sie nun müde zu werden. Angesichts der aufregenden Erlebnisse im Zug und der permanenten Nervenanspannung war das überaus verständlich.
Das Mädchen schüttelte den Kopf eifrig, um wieder etwas wacher zu werden und nuschelte dann geringschätzig: „Ach, Mum hat gesagt, sie will in Oxford nach der Modenschau mal nach Privatschulen zu fragen … sie hat mir gesagt, Dad möchte, dass wir … oh, wie hat sie das genannt? … dieses Nomadenleben einstellen.“ Eine milde Empörung zeigte sich auf ihren niedlichen Zügen, als sie verärgert hinzufügte: „Er hat einfach keine Ahnung! Ich finde das toll , so viel zu reisen! Das kann nicht jeder!“
Sie schien das wirklich als Auszeichnung zu verstehen, und wenn Vicky verärgert war, sah sie einfach unglaublich süß und liebenswert aus.
Helen lächelte, konnte den Vater aber gut verstehen. Es war ganz gewiss nicht gesund für ein Kind, so endlos über den Globus geschleift zu werden. Irgendwo musste es ja zur Ruhe kommen. Freundschaften schließen, Wurzeln schlagen … das war doch wichtig, nicht wahr? Nun, in jedem Fall für Helen. Aber sie war auch Engländerin, während Victorias Eltern beide Ausländer waren, die die Reiselust gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen zu haben schienen.
‚Vermutlich wird die Mutter für Vicky Privatlehrer engagieren …‘, sinnierte die Historikerin. ‚Geld scheint ja genug da zu sein …‘
„...tschuldige!“
Helen schmunzelte – das süße Kind, das ihr gegenüber jetzt endlich Platz genommen hatte und den Koffer mit den Puppen ein bisschen zur Seite schob, hatte herzhaft gegähnt und blinzelte nun aus immer kleiner werdenden Äuglein. Fraglos eine Folge der furchtbaren Aufregung von vorhin und der daraus resultierenden Erschöpfung. Sie zeigte sich so schnell, als stünde Victoria unter Beruhigungsmitteln. Auch das stellte so eine beneidenswerte Eigenschaft von Kindern dar – während Erwachsene sich manchmal stundenlang hin- und herwälzten und keinen Schlaf finden konnten, vielleicht auch deshalb, weil sie
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