Im Zug (German Edition)
sie sich also von dem sechsjährigen Mädchen, das schon erstaunlich wortgewandt war, geduldig ihre Puppensammlung erklären, und Helen verfolgte mit einem warmen Gefühl des Amüsements, wie sie die kleinen Puppenschminktaschen öffnete und demonstrierte, wie sich ihre vier kleinen, eigentlich leblosen Gefährtinnen zärtlich, wenn auch manchmal ein bisschen ruppig (beispielsweise beim Frisieren) schminkten, damit sie „ausgehfertig“ wurden …
Es waren „natürlich“ französische Puppen, wie Victoria versicherte. Sie waren in Paris gekauft worden, und am liebsten spielte sie „Mannequins in Paris“. Der Grund erschloss sich für die Historikerin nicht sofort. Ihr fiel nur auf, dass die Kleidung des Mädchens ebenso wie der edle, modische Damenmantel, der an einem Wandhaken hing und unbestreitbar Victorias Mutter gehörte, von erlesenem Kleidungsgeschmack zeugte. Und von einer Menge Geld. Was auch immer die Mutter des Mädchens von Beruf war – sie war ganz gewiss vermögend.
Victoria schien die Tatsache, dass ihre Mutter verschwunden war, für den Moment völlig verdrängt zu haben. Und Helen wurde nach einer Weile neben der Tatsache, dass das Kind sie offensichtlich für die Zeit der Abwesenheit ihrer Mutter als „Ersatzmutter“ adoptiert hatte, deutlich, wie sehr sie das genoss. Schnell ließ Victoria zu, dass Helen sie „Vicky“ abkürzte.
‚Solch ein hübsches Kind hätte ich auch gerne gehabt‘, dachte die Historikerin unvermittelt sehnsüchtig. Der Gedanke war fast peinigend.
Und als hätte Victoria ihre Gedanken gelesen, fragte sie plötzlich, im Spiel innehaltend: „Sag mal … hast du auch Kinder, Helen?“
„Was? Äh … nein.“
„Och, das ist schade.“
Helen blinzelte verdutzt. Der Gedankensprung von den Pariser Puppen zu eigenen Kindern verwirrte sie etwas. „Das verstehe ich jetzt nicht.“
„Na ja, ich meine, dann könnten wir uns doch besuchen , ich meine, meine Mum und ich würden kommen, und ich könnte mit deinen Kindern spielen … das fände ich toll.“ Sie schwieg wieder eine Weile, frisierte eine Weile die Puppen und schaute dann, als ihr Helens Schweigen wohl auffiel, erneut auf. „Und was machst du so?“
Die brüsken Themenwechsel waren noch etwas, an das man sich bei Kindern gewöhnen musste. Wenigstens Victoria bewies ein sonniges Gemüt und legte Fragen, auf die sie keine befriedigenden Antworten bekam, schnell ad acta., um gleich darauf neue zu stellen.
„Ich bin Historikerin“, antwortete Helen schmunzelnd.
„Beim Film ? Machst du Filme?“ Neugierde flammte in den grünblauen Augen auf. „Mit Rittern und so?“
„Nein, nein … ich schreibe Bücher .“
Das war offensichtlich spannender als die Puppen. Verdutzt legte der blonde Engel sie beiseite und staunte Helen nun offen an. „Bücher? Du SCHREIBST Bücher?“
„Ja … na ja, ich arbeite gerade an meinem ersten richtigen Buch“, korrigierte sich die Historikerin, ein wenig verlegen. „Weißt du, es ist ein Buch über Francis Drake und die Königin Elisabeth. Kennst du dich ein bisschen in Geschichte aus?“
„Nein … Mum meint, ich sei noch zu jung.“ Kindliche Verärgerung zeichnete Victorias hübsches Gesicht. Der deutliche Verdruss auf diesen jungen Zügen wirkte sehr amüsant. Helen hatte Mühe, nicht loszukichern. Das hätte Vicky ihr gewiss nicht verziehen. „Dabei bin ich doch gar nicht so klein, wie sie denkt! Man muss doch nicht zur Schule gehen, um klug und groß zu sein, oder?“
„Gewiss nicht“, versicherte die Historikerin eifrig.
Die sich nun anschließende kurzweilige Unterhaltung lief rasch ein wenig aus dem Ruder, wie Helen Edwards fand, aber sie ging nur zu bereitwillig auf die unorthodoxe Gesprächsführung ein, weil sie so wunderbar ablenkend war. Auf diese Weise erhielt sie von Victoria eine Menge an Informationen. Und es kam einiges Licht in Victorias Leben.
Aber es klärte das, was ihnen beiden hier zugestoßen war, nicht im Mindesten …
*
Victoria hieß mit vollem Namen Victoria Mariakis. Ihre Mutter Antonia war eine gebürtige Ukrainerin, die schon seit vielen Jahren in England lebte und hier als recht erfolgreiches Model arbeitete. Während ihrer offenbar steilen und schnellen Karriere hatte sie Themistokles Mariakis kennen gelernt, einen aufstrebenden griechischen Designer, ihn geheiratet und Victoria in die Welt gesetzt.
Die Berufe der beiden Elternteile brachten häufige Reisen mit sich. Offensichtlich wechselten auch die Wohnsitze
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