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Imagica

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Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Angelegenheiten der beiden Brüder seien immer voneinander 276

    getrennt gewesen. Angeblich war er nie mit Angelegenheiten beauftragt worden, die in irgendeiner Hinsicht Oscar Godolphin betrafen.
    »Vielleicht ist er längst tot«, sagte Leader.
    Als die direkten Methoden versagten, besann sich Judith auf die indirekten. Sie kehrte zu Estabrooks Haus zurück, durchsuchte es gründlich und hielt dabei nach Oscars Adresse oder Telefonnummer Ausschau. Sie fand weder das eine noch das andere, entdeckte jedoch ein Fotoalbum, das ihr Charlie nie gezeigt hatte und das Bilder von den beiden Brüdern enthielt.
    Es fiel Jude nicht schwer, sie voneinander zu unterscheiden.
    Schon damals offenbarte Estabrook einen gewissen Ernst, während der sechs Jahre jüngere Oscar weitaus zuversichtlicher wirkte. Er trug ein paar Kilos zuviel mit sich herum - was jedoch kaum etwas an seiner Attraktivität änderte
    - und lächelte, den Arm um die Schultern seines Bruders gelegt. Judith nahm das neueste Foto (es präsentierte Charles als Jugendlichen) und steckte es ein. Wiederholung machte das Stehlen leichter, stellte sie fest. Andere Informationen fand sie leider nicht. Wenn sie mehr über den Reisenden und die Welt erfahren wollte, aus der er ›Souvenirs‹ mitbrachte, so mußte sie sich wohl an Estabrook wenden. Bestimmt brauchte sie ein Menge Geduld, um ihn nach und nach zu veranlassen, ihr Auskunft zu geben, und die Unruhe in Jude wuchs immer mehr. Zwar hatte sie jederzeit die Möglichkeit, einen Flug zu buchen, um zu irgendeinem beliebigen Ort auf der Erde zu gelangen, doch eine sonderbare Form von Klaustrophobie suchte sie nun heim. Sie wollte Zugang zu einer anderen Welt, und bis zur Erfüllung dieses Wunsches kam die Erde einem Kerker gleich.
    3
    Am Morgen des 17. Januar erhielt Oscar einen Anruf von Leader, der ihm mitteilte, daß sich die Frau seines Bruders 277

    nach ihm erkundigt habe.
    »Hat Sie einen Grund genannt?«
    »Nein, nicht in dem Sinne. Aber sie scheint etwas herausfinden zu wollen. In der vergangenen Woche hat sie Estabrook dreimal besucht.«
    »Danke, Lewis. Ich weiß das sehr zu schätzen.«
    »Demonstrieren Sie Ihre Dankbarkeit mit einem Scheck, Oscar«, sagte Leader. »Ich habe ein sehr teures Weihnachtsfest hinter mir.«
    »Sind Sie jemals mit leeren Händen ausgegangen?«
    erwiderte Godolphin. »Halten Sie mich auf dem laufenden.«
    Der Anwalt versprach es, doch Oscar rechnete kaum damit, weitere nützliche Informationen von ihm zu erhalten. Nur ein Opfer wahrer Verzweiflung vertraute Anwälten, und Judith schien nicht zu den Menschen zu gehören, die leicht verzweifelten. Charlie hatte verhindert, daß er seine Frau kennenlernte, aber allein der Umstand, daß sie Estabrooks Gesellschaft so lange ertragen hatte, deutete auf einen eisernen Willen hin. Woraus sich die Frage ergab: Warum besuchte Judith ihren Ehemann, obgleich sie wußte, daß er einen Killer auf sie angesetzt hatte? Ging es ihr darum, Charlies Bruder zu finden? Eine derartige Neugier mußte im Keim erstickt werden. Es existierten bereits zu viele Risikofaktoren - die von der Tabula Rasa eingeleitete Säuberungsaktion veranlaßte die Polizei zu umfangreichen Ermittlungen, und hinzu kam Oscars treuer Majordomus Augustine (vormals Dowd), der immer re-spektloser wurde. Ganz zu schweigen von Charlie, der in seinem Asylam Rand der Heide hockte und eine kaum zu bestimmende Variable darstellte. Möglicherweise hatte er nicht komplett den Verstand verloren, aber er war unberechenbar.
    Und bedauerlicherweise verfügte er über Kenntnisse, mit denen er seinem Bruder sehr schaden konnte. Früher oder später schwatzte er vielleicht darüber. Wenn dann seine Frau zugegen war, aufmerksam zuhörte und bestimmte Schlüsse zog...
    278

    An jenem Abend schickte er Dowd (der Name Augustine erschien ihm absurd) mit einem Obstkorb zur Klinik.
    »Freunde dich dort mit jemandem an«, sagte Oscar. »Ich möchte wissen, worüber Charlie plaudert, wenn man ihn wäscht.«
    »Warum fragen Sie ihn nicht danach?«
    »Weil er mich haßt. Er fühlt sich zurückgesetzt, weil mein Vater beschloß, mich zu seinem Nachfolger bei der Tabula Rasa zu ernennen und nicht etwa Charlie.«
    »Warum traf Ihr Vater eine derartige Entscheidung?«
    »Weil er Charles schon damals für labil und unzuverlässig hielt. Weiler wußte, daß mein großer Bruder der Gruppe Probleme bescheren würde. Bisher ist es mir gelungen, ihn unter Kontrolle zu halten. Er bekam das eine oder andere Geschenk

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