Imagica
froh, von den täglichen Pflichten der Freundin und Trösterin befreit zu werden. Überrascht stellte sie fest, daß Entschlossenheit und Eifer nicht mehr so heiß in ihr brannten wie während der ersten Stunden des neuen Jahres. Allerdings stand ihr eine Möglichkeit zur Verfügung, zu jenem früheren Selbst zurückzukehren. Sie brauchte nur auf den Hund hinabzusehen, um sich ganz deutlich an den verblüffenden Anblick in Gentles Atelier zu erinnern: zwei Gestalten, die sich einfach in Luft auflösten. Wenn sich Judith daran entsann, dachte sie auch wieder an die Nachrichten, die sie Zacharias in jener Nacht hatte bringen wollen - Schilderungen ihrer Traumreise, verursacht von einem Stein, der eingewickelt im Kleiderschrank lag. Eigentlich hielt sie nicht viel von Hunden, aber sie hatte den Köter mit nach Hause genommen, davon überzeugt, daß er sterben würde, wenn sie ihn sich selbst überließe. Schon bald schmeichelte er sich bei ihr ein und wedelte glücklich mit dem Schwanz, wenn sie abends nach dem bei Clem verbrachten Tag heimkehrte. Nachts oder früh am Morgen schlich er ins Schlafzimmer und rollte sich dort auf Judes Kleidungsstücken zusammen. Sie nannte ihn Skin - Haut
-, wegen seines dünnen Fells; zwar hing sie nicht so an ihm wie 269
er an ihr, aber sie gewann ihn trotzdem lieb. Weil er die Einsamkeit von ihr fernhielt. Mehr als einmal ertappte sie sich dabei, in Skins Gegenwart lange Monologe zu halten, während er sich leckte. Solche Selbstgespräche waren kein subtiler Hinweis darauf, daß sie allmählich den Verstand verlor - sie halfen ihr dabei, die Gedanken zu sammeln, sich zu konzentrieren. Drei Tage nach Clems Abreise diskutierte sie mit Skin darüber, was sie jetzt unternehmen sollte, und dabei fiel der Name Estabrook.
»Du hast Estabrook noch nicht kennengelernt«, teilte Judith dem Hund mit. »Aber bestimmt könntest du ihn nicht leiden.
Er hat versucht, mich umbringen zu lassen.«
Skin hob den Kopf.
»Ja, ich war ebenfalls ziemlich schockiert«, fuhr Jude fort.
»Ich meine, so behandelt man nicht einmal ein Tier, oder?
Womit ich dir nicht zu nahe treten möchte. Ich war seine Frau.
He, ich bin's noch immer. Und er setzte einen Killer auf mich an. Versuch mal, dich in meine Lage zu versetzen: Wie würdest du reagieren? Ja, ich weiß. Ich sollte ihm einen Besuch abstatten. Der blaue Stein stammt aus seinem Safe. Und dann das Manuskript! Erinnere mich daran, dir irgendwann einmal von dem Manuskript zu erzählen. Das heißt... vielleicht wär's ein Fehler. Du könntest auf dumme Gedanken kommen...«
Skin ließ den Kopf wieder auf die Vorderpfoten sinken, seufzte zufrieden und döste.
»Du bist eine große Hilfe! Ich brauche Rat. Was sage ich dem Mann, der mich ins Jenseits schicken wollte?«
Der Hund schloß die Augen, und Judith mußte ihre Frage selbst beantworten.
»Ich sage zu ihm: Hallo, Charlie, erzähl mir die Geschichte deines Lebens.«
2
Am nächsten Tag setzte sich Judith mit Lewis Leader in 270
Verbindung, um festzustellen, ob Estabrook noch immer im Krankenhaus lag. Das war tatsächlich der Fall, aber inzwischen hatte man ihn verlegt, in eine Privatklinik in Hampstead.
Leader gab Jude alle notwendigen Informationen, daraufhin rief sie in der Klinik an und erkundigte sich nach Estabrooks Zustand und der Besuchszeit. Er stand noch immer unter Beobachtung, aber seine Stimmung war jetzt besser, und sie konnte ihn jederzeit besuchen. Es schien kaum sinnvoll zu sein, die Begegnung noch länger hinauszuschieben, deshalb brach sie noch am gleichen Abend auf und fuhr durch einen wahren Wolkenbruch nach Hampstead. In der psychiatrischen Abteilung wurde sie von dem für Estabrook zuständigen Pfleger begrüßt, einem redseligen jungen Mann namens Maurice, dessen Oberlippe zu verschwinden schien, wenn er lächelte - was ziemlich oft geschah -, der mit fast indiskretem Enthusiasmus von der geistigen Verfassung des Patienten berichtete.
»Ab und zu geht es ihm ganz gut«, sagte Maurice fröhlich, und im gleichen munteren Tonfall fuhr er fort: »Doch meistens gibt er sich ganz seinem Kummer hin. Leidet an schweren Depressionen. Bevor er zu uns kam, unternahm er einen Selbstmordversuch, aber jetzt hat sich sein Zustand stabilisiert.«
»Bekommt er Beruhigungsmittel?«
»Wir halten seine Beklemmung unter Kontrolle, pumpen ihn jedoch nicht mit Drogen voll - wenn Sie das meinen. Er muß bei Sinnen bleiben, wenn wir ihm dabei helfen sollen, dem Problem auf den Grund zu
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