Imagica
der Safe war kein Problem«, erwiderte Judith.
Estabrook sah nicht auf, sondern schlürfte auch weiterhin seinen Kakao. »Ich habe einige seltsame Dinge darin gefunden, Charlie. Und ich würde gern darüber reden.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Souvenirs. Eine Statue, beziehungsweise ein Stück davon.
Und ein Manuskript.«
»Nein«, sagte er und mied noch immer ihren Blick. »Die genannten Objekte gehören mir nicht. Ich habe keine Ahnung, was es mit ihnen auf sich hat. Mein Bruder bat mich, sie an einem sicheren Ort zu verstauen.«
Ein interessanter Hinweis, fand Jude. »Und woher hat Oscar sie bekommen?«
»Ich hielt es nie für nötig, ihn danach zu fragen«, brummte Estabrook und winkte ab. »Er ist viel auf Reisen.«
»Klingt nach einem faszinierenden Mann.«
»Oscar würde dir bestimmt nicht gefallen«, sagte Charles hastig.
»Ich mag Globetrotter.« Judith versuchte, ihrer Stimme einen beiläufigen Klang zu verleihen.
»Diesen nicht«, beharrte Estabrook. »Mein Bruder wäre dir 274
unsympathisch.«
»Hat er dich besucht?«
»Nein. Ich würde ihn auch gar nicht empfangen. Warum stellst du mir solche Fragen? Bisher hat dich Oscar nie interessiert.«
»Nun, er ist deinBruder«, sagte Judith. »Er trägt Verantwortung dir gegenüber.«
»Wer, Oscar? Der Kerl denkt nur an sich selbst. Hat mir die Geschenke gegeben, damit ich nicht aufmucke und immer hübsch brav bleibe.«
»Ah, es sind alsoGeschenke. Eben hast du behauptet, sie seien gar nicht dein Eigentum.«
»Spielt das eine Rolle?« Charlie hob die Stimme ein wenig.
»Rühr die Gegenstände nicht an - sie können gefährlich werden. Du hast sie doch in den Safe zurückgelegt, oder?«
Judith bestätigte - ein Lüge. Sie entschied sich gegen die Wahrheit, um Estabrook nicht noch mehr zu beunruhigen.
»Bietet das Fenster einen guten Ausblick?« erkundigte sie sich.
»Man kann die Heide sehen«, antwortete Charlie. »Ein hübsches Panorama - wenn's nicht gerade regnet. Am Montag hat man dort eine Leiche gefunden. Eine Frau. Erwürgt. Ich habe beobachtet, wie die Ermittlungsbeamten gestern und heute die ganze Gegend durchkämmten. Auf der Suche nach Spuren, nehme ich an. Und das bei diesem Wetter. Wie schrecklich, bei diesem Wetter draußen nach schmutziger Unterwäsche oder so zu suchen. Kannst du dir das vorstellen?
Ich dachte: Lieber Himmel, zum Glück hab' ich's hier warm, trocken und gemütlich.«
Diese seltsame Abschweifung bot den deutlichsten Hinweis auf Charlies Veränderung. Ein früherer Estabrook hätte seine Zeit nicht mit Gesprächen vergeudet, die keinem klaren Zweck dienten. Oberflächliche Konversation weckte Verachtung in ihm, erst recht dann, wenn sie ihn selbst betraf. Aus dem 275
Fenster zu sehen und zu überlegen, wie es anderen Leuten in der Kälte erging...
Noch vor zwei Monaten wäre so etwas undenkbar gewesen.
Der Wandel gefiel Judith, ebenso wie die neue Würde in seinen Zügen. Vielleicht hatte sie diesen Estabrook geliebt?
Sie unterhielten sich noch eine Zeitlang, ohne persönliche Dinge anzusprechen. Schließlich nahmen sie freundlich voneinander Abschied und umarmten sich sogar.
»Wann kommst du wieder?« fragte Charles.
»In ein paar Tagen«, erwiderte Jude.
»Ich warte auf dich.«
Die Objekte aus dem Safe stammten also von Oscar Godolphin. Der geheimnisvolle Oscar... Er behielt den Familiennamen, während sein Bruder Charles ihn ablehnte.
Oscar der Rätselhafte. Oscar der Globetrotter. Wie weit war er gereist, um mit so ausgefallenen Dingen zurückzukehren?
Hatte er vielleicht diese Welt verlassen, um in die gleiche Ferne zu verschwinden wie Gentle und Pie'oh'pah? Judith ahnte eine Verschwörung. Wenn zwei Männer, die sich nicht kannten - Oscar Godolphin und John Zacharias - von jener fremden Welt wußten und sie auch erreichen konnten: Wie viele andere Personen teilten dieses Wissen? Hatte Taylor Bescheid gewußt? Und Clem? Oder handelte es sich um eine Art Familiengeheimnis? Aber wenn das der Fall war... Woraus resultierte dann die Verbindung zwischen Godolphin und Zacharias?
Wie auch immer die Erklärung lauten mochte: Von Gentle durfte Judith keine Antworten erwarten; sie mußte sich direkt an Bruder Oscar wenden. Zuerst probierte sie den direkten Weg aus und versuchte, ihn anzurufen, aber seine Nummer stand nicht im Telefonbuch. Lewis Leader behauptete, keine Kenntnisse von Oscars Aufenthaltsort oder seinem persönlichen Hintergrund zu haben. Er betonte, die geschäftlichen
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