Imagica
gehen.«
»Hat er Ihnen sein Problem erläutert?« fragte Judith und rechnete damit, daß die Antwort aus sie betreffenden Vorwürfen bestand.
»Die Angelegenheit ist noch immer ziemlich rätselhaft«, entgegnete Maurice. »Er spricht sehr liebevoll von Ihnen, und ich bin sicher, daß ihm Ihr Besuch hilft. Vermutlich hängt die 271
Sache mit seinen Blutsverwandten zusammen. Ich habe ihn dazu gebracht, von Vater und Bruder zu erzählen, aber manchmal drückt er sich recht geheimnisvoll aus. Nun, der Vater ist natürlich längst tot. Vielleicht gelingt es Ihnen, mehr über den Bruder herauszufinden.«
»Ich bin ihm nie begegnet.«
»Schade. Ganz offensichtlich hegt Charles einen Groll gegen ihn, doch der Grund dafür blieb mir bisher schleierhaft. Wie dem auch sei: Früher oder später gelingt es mir sicher, Aufschluß zu gewinnen. Es ist nur eine Frage der Zeit. Er versteht es gut, seine Geheimnisse für sich zu behalten, nicht wahr? Nun, wer weiß das besser als Sie! Soll ich Sie jetzt zu ihm bringen? Ich habe Ihren Anruf erwähnt - wahrscheinlich erwartet er Sie.«
Es gefiel Judith nicht, daß sie dadurch den Vorteil des Überraschungsmoments verlor und Estabrook Gelegenheit bekam, sich mit all seinen kleinen Tricks auf sie vorzubereiten.
Aber jetzt ließ sich daran nichts mehr ändern, und sie beschloß, ihren Ärger zu verbergen. Vielleicht mußte sie später noch einmal auf die schwatzhafte Hilfsbereitschaft des Pflegers zurückgreifen.
Estabrooks Zimmer erweckte keinen schlechten Eindruck, erwies sich als geräumig und bequem eingerichtet. An den Wänden hingen Reproduktionen von Monet und Renoir, die ebenso beruhigend wirkten wie das leise, im Hintergrund erklingende Klavierkonzert. Estabrook lag nicht im Bett, sondern saß am Fenster, hatte die Gardinen beiseite gezogen und sah in den Regen hinaus. Er trug einen Schlafanzug, darüber einen teuren Morgenmantel - und er rauchte. Maurice hatte recht: Charles rechnete mit Besuch. Seine Miene verriet keine Überraschung, als Judith in der Tür erschien. Und ihre Ahnungen trogen sie nicht - die Begrüßungsworte lagen ihm bereits auf der Zunge.
»Endlich ein vertrautes Gesicht.«
272
Er blieb sitzen, erhob sich nicht, um sie in die Arme zu schließen. Jude zögerte kurz, gab sich dann einen inneren Ruck, trat auf ihn zu und hauchte ihm einen Kuß auf beide Wangen.
»Einer der Pfleger holt dir was zu trinken, wenn du etwas möchtest«, sagte Charles.
»Draußen ist es ziemlich kalt. Eine Tasse Kaffee - heiß -
wäre nicht übel.«
»Vielleicht besorgt dir Maurice einen, wenn ich verspreche, ihm morgen mein Herz auszuschütten.«
»Versprechen Sie's?« fragte Maurice prompt.
»Ja, einverstanden. Morgen erfahren Sie die Geheimnisse meiner frühen Kindheit. Vielleicht möchten Sie wissen, wie ich es gelernt habe, auf Windeln zu verzichten und die Toilette zu benutzen?«
»Milch und Zucker?« fragte Maurice.
»Nur Milch«, sagte Charlie. »Es sei denn, ihre Vorlieben haben sich geändert.«
Jude schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Oh, natürlich nicht. Bei Judith verändert sich nie etwas. Sie ist für die Ewigkeit geschaffen.«
Maurice ging und ließ die Besucherin mit seinem Patienten allein. Es folgte keine Verlegenheit bringende Stille. Estabrook begann sofort mit seinem Eröffnungszug - er sprach davon, wie sehr er sich darüber freute, daß Jude gekommen war, wie sehr er sich Vergebung von ihr erhoffte -, und Judith musterte ihn stumm. Er hatte abgenommen und trug jetzt kein Toupet, wodurch in seiner Physiognomie Aspekte deutlich wurden, die ihr zum erstenmal auffielen. Eine große Nase, nach unten gezogene Mundwinkel, die vorgestülpte Unterlippe - dadurch sah er aus wie ein in Not geratener Aristokrat. Bestimmt konnte sie sich nicht noch einmal in ihn verlieben, aber es mochte ihr durchaus möglich sein, ihn in diesem Zustand zu bemitleiden.
273
»Du möchtest wahrscheinlich die Scheidung«, sagte Charles.
»Darüber sprechen wir ein anderes Mal.«
»Brauchst du Geld?«
»Nein, derzeit nicht.«
»Wenn du knapp bei Kasse sein solltest...«
»Dann hörst du von mir.«
Ein anderer Krankenpfleger traf ein, brachte Kaffee für Judith, Kakao für Estabrook und Kekse für beide. Als er wieder gegangen war, legte Jude ein Geständnis ab - um Charlie zu suggerieren, daß er Vertrauen zu ihr haben könne.
»Ich bin im Haus gewesen«, sagte sie. »Um meinen Schmuck zu holen.«
»Und es ist dir nicht gelungen, den Safe zu öffnen.«
»Oh,
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