Imagica
mit Pie hierhergekommen war. Doch jetzt sahen sie ihn nackt durch den Schleier aus Schneeflocken, die im Wind übers Eis tanzten; jetzt sahen sie sein im Frost geschrumpftes Glied, seinen zitternden Leib, im Gesicht und auf den Lippen eine Frage, deren Antwort er zu erahnen begann. Wenn tatsächlich Hapexamendios die Verantwortung für dieses Grauen trug - warum hatte der Unerblickte nicht alle Spuren Seiner Opfer ausgelöscht? Weil es Frauen waren, mächtige noch dazu? Hatte Er sie nicht ganz und gar vernichten können? Mußte Er sich damit begnügen, die Altäre zu zertrümmern und die Tempel zu verwüsten? Stellte dieses Eis vielleicht gar kein Grab dar, sondern ›nur‹ ein Gefängnis?
Zacharias kniete nieder, preßte die Hände auf den Gletscher -
und hörte ein Geräusch im Wind, ein knurrendes Heulen irgendwo weiter oben. Die Unsichtbaren hatten die Gegenwart des Träumenden lange genug hingenommen, sahen nun seine Entschlossenheit und kamen näher. Er behauchte eine Hand und schloß sie, bevor der Atem entkommen konnte, hob dann 355
die Faust, schmetterte sie aufs Eis und streckte dabei die Finger.
Das Pneuma krachte wie ein Donnerschlag, und der ganze Gletscher schien zu erbeben. Gentle fing einen zweiten Atemstoß, noch bevor die Vibrationen nachließen, setzte dann rasch hintereinander einen dritten und vierten ein. Dabei hämmerte er so fest aufs stahlharte Eis, daß er sich ohne die dämpfende, federnde Wirkung der Pneumas vom Handgelenk bis zu den Fingerspitzen alle Knochen gebrochen hätte. Seine Bemühungen blieben nicht ohne Ergebnis. Haarfeine Risse bildeten sich und wuchsen durch den Gletscher.
Die Resultate ermutigten ihn, und er holte zu neuen Schlägen aus, doch nach dem dritten fühlte er sich plötzlich am Haar gepackt. Etwas zerrte seinen Kopf nach hinten, und ein zweiter Griff galt dem erhobenen Arm. Ihm blieb gerade noch Zeit genug, um zu merken, wie das Eis unter ihm splitterte -
unmittelbar darauf verlor er den Boden unter den Füßen.
Gentle setzte sich zur Wehr und versuchte, sich zu befreien.
Wenn ihn die beiden Angreifer höher trugen, war ihm der Tod gewiß; entweder zerfetzten sie ihm den Leib, oder sie ließen ihn einfach fallen. Die Klaue am Kopf schien nicht ganz so fest zuzudrücken und rutschte beiseite, als er sich einige Male hin und her wand. Er sah auf, und dabei rann ihm Blut über die Stirn. Die beiden Wesen waren knapp zwei Meter lang und schienen zum größten Teil aus Dornen zu bestehen, zwischen denen sich fladenartige Hautfetzen zeigten; den Armen und Beinen fehlten Knochen, und dadurch wirkten sie eher wie Tentakel oder Pseudopodien. Die Köpfe waren klein, rudimentär. Nur die Bewegungen der Geschöpfe offenbarten Anmut: ein wellenförmiges Dahingleiten, bei dem sich Gliedmaßen verknoteten und wieder entfalteten. Gentle tastete nach einem der Schädel. Das ›Gesicht‹ wies keine erkennbaren Züge auf, erweckte jedoch einen zarten, fragilen Eindruck. Der Hand haftete noch immer die Kraft der Pneumas an, und 356
Zacharias zögerte nicht, Gebrauch davon zu machen. Er bohrte die Finger in Haut und Fleisch des Wesens, das den langen Leib um seinen Gefährten schlang, während Arme und Beine heftig zuckten. Anschließend genügte es, daß sich Gentle abrupt von einer Seite zur anderen warf: Die Klauen lösten sich von ihm, und er fiel nur anderthalb Meter tief, prallte jedoch hart aufgesplittertes Eis. Schmerz nahm ihm den Atem. Er sah, wie die dämonischen Geschöpfe herabkamen, um über ihn herzufallen, und er wußte: Ob er schlief oder wachte - dies war sein Ende. Der Tod im Traum brachte auch seinen realen Körper um.
Doch bevor Hapexamendios' Wächter Gelegenheit bekamen, ihm mit ihren Krallen die Augen auszustechen oder ihn zu entmannen - erbebte der Gletscher, erhob sich donnernd und schleuderte Gentle in den Schnee. Es regnete Eissplitter, doch Zacharias spähte durch den Hagel und beobachtete, wie die Frauen aus ihren Gräbern stiegen. Er stemmte sich hoch, als der Boden immer heftiger zitterte und das Krachen von den Berghängen widerhallte, drehte sich um und lief.
Der Wind zog einen Vorhang aus Myriaden weißer Flocken vor den Ort der Wiederauferstehung, deshalb konnte der Fliehende nicht feststellen, welches Ende die von ihm eingeleiteten Ereignisse nahmen. Wenn ihm die Wesen folgten, so fanden sie ihn nicht, doch das bot nur wenig Trost: Er hatte sich verletzt, und die Entfernung zur Nische zwischen den beiden hohen Felsblöcken war nicht
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