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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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nach seinem Nacken. »Wir haben keine Wahl«, fügte er langsam hinzu.
    Pie nickte, und sie hockten sich neben dem Doeki nieder.
    Das Tier atmete noch, aber bestimmt nicht mehr lange, glaubte Gentle. Was mochte geschehen, wenn es starb, wenn der Sturm auch weiterhin heulte? Er versuchte, diese Gedanken zu verdrängen, aber welchen Sinn hatte es, die Realität zu leugnen? Wenn die Umstände ihren Tod mit sich brachten...
    War es dann nicht besser, sich dem Schicksal zu beugen, die 362

    Pulsadern aufzuschneiden, um Seite an Seite zu verbluten, anstatt langsam zu erfrieren und sich dabei an falschen Überlebenshoffnungen festzuklammern? Zacharias wollte Pie einen entsprechenden Vorschlag machen, solange ihm noch Kraft genug blieb, um die Worte zu formulieren, doch als er sich dem Mystif zuwandte, spürte er eine Vibration, die nicht vom Sturm stammte. Eine Stimme flüsterte im Zischen und Fauchen - und sie verlangte von ihm, sich zu erheben. Er kam der Aufforderung nach und stemmte sich hoch. Die Böen hätten ihn sicher von den Beinen gerissen, wenn Pie nicht ebenfalls aufgestanden wäre. Er sah die Erscheinung als erster, beugte sich zu Gentle und fragte:
    »Wie konnten sie den Gletscher verlassen?«
    Die Frauen standen hundert Meter entfernt. Ihre Füße berührten den Schnee, hinterließen jedoch keine Spuren darin.
    Kleidungsstücke aus dem Eis umhüllten die Körper, blähten sich auf und flatterten, als der Wind daran zerrte. Manche Hände hielten aus dem Gletscher geborgene Kostbarkeiten: Fragmente eines Tempels oder Altars. Eine Befreite - jenes Mädchen, dessen Anblick Gentle so sehr erschüttert hatte - trug den aus blauem Stein bestehenden Kopf einer Göttin in den Armen. Das sakrale Artefakt war in einem ziemlich schlechten Zustand. Risse durchzogen die Wangen und den Nasenflügel; ein Auge fehlte, doch es fing Licht ein, erglühte in einem ruhigen, heiteren Glanz.
    »Was wollen sie?« brachte Gentle hervor.
    »Vielleicht dich?« spekulierte Pie.
    Eine der Frauen - der Wind hob ihr das lange Haar hoch über den Kopf - musterte die beiden Gestalten und winkte.
    »Offenbar möchte sie, daß wir ihr folgen«, sagte Gentle.
    »So hat es den Anschein«, bestätigte Pie, ohne sich von der Stelle zu rühren.
    »Worauf warten wir noch?«
    »Ich habe die Frauen für tot gehalten«, meinte der Mystif.
    363

    »Vielleicht hattest du recht.«
    »Sollen wir uns von Phantomen führen lassen? Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«
    »Sie sind wegen uns gekommen, Pie«, sagte Gentle.
    Nach dem Winken drehte sich die Frau langsam auf den Zehenspitzen um, wie jene mechanische Madonna, die Zacharias einmal von Clem bekommen hatte und die beim Drehen Ave Maria spielte.
    »Wenn wir uns nicht beeilen, verlieren wir sie aus den Augen. Was ist los mit dir, Pie? Du hast es doch nicht zum erstenmal mit Geistern zu tun, oder?«
    »Nein. Aber diese sind anders. Weißt du, die Göttinnen waren nicht alle gnädige, barmherzige Mütter. Einige ihrer Rituale hatten es wirklich in sich: Manchmal wurden dabei Männer geopfert.«
    »Glaubst du, daß es den Frauen darum geht? Wollen sie uns opfern?«
    »Möglich wär's.«
    »Dann stellen wir diese Möglichkeit der Gewißheit gegenüber, hier zu erfrieren«, sagte Gentle.
    »Die Entscheidung liegt bei dir.«
    »Nein, wir treffen sie gemeinsam. Du nimmst zu fünfzig Prozent an der Abstimmung teil, Pie. Und du trägst die halbe Verantwortung.«
    »Was möchtest du?«
    »Da haben wir's mal wieder. Diesmal mußt du dir ein eigenes Urteil bilden.«
    Pie sah erst zu den Frauen hinüber - einige von ihnen verschwanden bereits hinter dem Schleier aus Schnee -, dann zu Gentle und dem Doeki. Schließlich kehrte sein Blick zu Zacharias zurück.
    »Ich habe gehört, daß sie die Hoden von Männern essen«, sagte er.
    »Dann brauchst du dir ja keine Sorgen zu machen.«
    364

    »Na schön«, knurrte der Mystif. »Ich bin dafür, daß wir ihnen folgen.«
    »Es ist also ein einstimmiger Beschluß.«
    Pie begann damit, den Doeki auf die Beine zu ziehen. Das Tier wollte liegenbleiben, aber der Mystif konnte ziemlich ungemütlich werden, wenn die Zeit drängte. Er fluchte und zog noch heftiger an den Zügeln.
    »Schnell!« drängte Gentle. »Sonst verlieren wir sie aus den Augen!«
    Der Doeki stand nun, und Pie führte ihn durchs Weiß, hinter Gentle her, der bereits vorauseilte und den Frauen folgte.
    Manchmal wurde das Schneetreiben so dicht, daß sich die Gestalten ganz darin auflösten. Ab und zu

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