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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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störte, und die spartanische Diät rief auch keine verhärmte Hohlwangigkeit hervor. Wer ihn musterte, gewann den Eindruck, ein Gemälde in einem Museum zu betrachten. Dort hing es an der Wand: ruhig, erhaben, schön, zeitlos. Aber im Gegensatz zu dem Gemälde zeichnete sich das jetzt reglose Gesicht durch die Fähigkeit zum unbegrenzten Wandel aus.
    Monate waren seit jenem Abend vergangen, als Gentle das Phänomen zum erstenmal gesehen hatte. Doch jetzt, als die Flammen schrumpften, als sich die Schatten um sie herum verdichteten, spürte er die Nähe des Wunders. Das Flackern verschob die mimische Symmetrie; Haut und Fleisch schienen einen Teil ihrer Festigkeit zu verlieren.
    »Ich möchte es sehen...«, murmelte er.
    »Dann halt die Augen offen.«
    »Aber das Feuer ist fast aus.«
    »Wir brauchen kein Licht, um uns gegenseitig zu beobachten«, hauchte der Mystif. »Bewahre den Anblick.«
    Gentle konzentrierte sich auf Pies Gesicht. Seine Augen schmerzten, als er versuchte, sich alle Einzelheiten einzuprä-
    gen, doch die Dunkelheit dehnte sich zu schnell aus.
    »Sieh nicht mehr hin...« Die Stimme des Mystifs schien aus der Asche zu raunen. »Sieh nicht mehr hin. Erkenne mich.«
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    Gentle suchte nach einem Sinn in diesen verwirrenden Worten, aber sie ließen sich nicht analysieren, blieben so geheimnisvoll wie die Finsternis. Zwei Möglichkeiten, das Existierende wahrzunehmen - die eine visuelle, die andere linguistischer Natur -, glitten von ihm fort. Es fühlte sich ein wenig wie Tod an, und Panik zitterte in ihm, eine Furcht, die ihn manchmal erfaßt hatte, wenn er mitten in der Nacht erwachte, ohne das Bett und den eigenen Körper zu erkennen.
    Dann formten seine Knochen einen Käfig, und es floß kein Blut in den Adern, sondern Schleim; dann bildete Verwesung die einzige Gewißheit. Zacharias erinnerte sich daran, daß er bei solchen Gelegenheiten alle Lampen eingeschaltet hatte, um die Dunkelheit zu vertreiben. Doch hier gab es kein Licht. Nur Körper, die kälter wurden, als das Feuer starb.
    »Hilf mir«, sagte er.
    Der Mystif blieb still.
    »Bist du da, Pie? Ich fürchte mich. Berühr mich, bitte. Pie!«
    Pie'oh'pah rührte sich nicht. Gentle streckte in der Finsternis die Hand aus und dachte dabei an Taylor, hörte noch einmal, wie ihn der Sterbende darum bat, seine Hand zu halten. Diese Reminiszenzen verdrängten die Panik und brachten einen Kummer, der nicht nur Taylor galt, sondern auch Clem und allen anderen Seelen, deren Sinne ans Fleischliche gebunden waren, die irgendwann von ihren Liebenden getrennt wurden.
    Die Trauer bezog sich auch auf ihn selbst. Er teilte den Wunsch eines Kindes, sehnte sich nach dem Wissen um eine andere Präsenz, bewiesen durch körperlichen Kontakt. Gleichzeitig wußte er, daß ihm so etwas keine echte Lösung anbot.
    Vielleicht fand er den Mystif in der Dunkelheit, aber an seinem Fleisch konnte er sich nicht für immer festhalten; ebenso unmöglich war es, die entschwindenden Sinne zurückzuholen.
    Nerven lösten sich auf; Finger glitten voneinander fort.
    Nach einer Weile begriff Gentle, daß ihm derartige Überlegungen keinen Trost spendeten, und daraufhin zog er die 351

    Hand zurück.
    »Ich liebe dich.«
    Sprach er die Worte laut aus, oder dachte er sie nur?
    Vielleicht beschränkten sie sich aufs Gedankliche, denn es war eine Vorstellung, die nun Formen gewann - Silben spielten dabei keine Rolle. Gentle entsann sich an Pies Verwandlung, an den damit einhergehenden irisierenden Glanz, an das metamorphierte Selbst des Mystifs in einer Dunkelheit, die nicht der Schwärze einer sternenlosen Nacht glich, sondern aus ihm selbst kam; das Sehen bezog sich dabei nicht auf Auge und Objekt, sondern auf die Interaktion mit dem Wesen, das er liebte - und das seine Liebe erwiderte.
    Er ließ die Gefühle aus sich herausströmen, übermittelte sie Pie, doch einige Sekunden später bezweifelte er, ob überhaupt eine Übermittlung irgendeiner Art stattfand. Sie erforderte Entfernung, und Distanz gehörte zu den Dingen, die im Drüben geblieben waren. Gentle hatte nicht nur seine Sinne verloren, sondern war auch von allen damit in Zusammenhang stehenden Notwendigkeiten befreit. Er fühlte sich fast wie neugeboren, spürte die unmittelbare Nähe des Mystifs und wußte: Jene Verwesung, von der er so oft geträumt hatte, bedeutete nicht Entsetzen, sondern war die Verheißung von Glückseligkeit.
    Ein Windstoß zischte durch die Lücke zwischen den beiden großen Felsblöcken, fand

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