Imagica
ihn mit seinem Mantel zu.
»Träum vom Schlaf«, sagte Pie. Er berührte Zacharias an der Wange. »Und erwache mit deinem vollständigen Selbst.«
2
Als Pie ihn weckte, schienen nur wenige Minuten vergangen zu sein. Der zwischen den beiden hoch aufragenden Felsblöcken sichtbare Himmel war noch immer finster, aber es handelte sich nicht mehr um die Schwärze der Jokalaylau-Nacht, sondern um die Dunkelheit von Wolken, die mehr Schnee brachten. Gentle setzte sich auf und schnitt eine Grimasse - alle Knochen in seinem Leib schmerzten.
»Was gäbe ich jetzt für eine Tasse Kaffee«, sagte er und widerstand der Versuchung, sich zu strecken - seine Gelenke hätten es ihm gewiß nicht gedankt. »Oder für einen Becher süßen Kakao.«
»Wenn es so etwas in Yzordderrex nicht gibt, erfinden wir's«, erwiderte Pie.
»Hast du uns was gekocht?«
»Wir haben nichts mehr zu verbrennen.«
»Und wie ist das Wetter?«
»Frag nicht.«
»So schlimm?«
»Wir sollten sofort aufbrechen. Je stärker es schneit, desto schwerer fällt es uns, zum Paß zu finden.«
Sie weckten den Doeki, der mit lautem Grunzen darüber klagte, daß sein Frühstück nicht etwa aus leckerem Heu bestand, sondern nur aus einigen aufmunternden Worten. Das am vergangenen Tag von Pie vorbereitete Fleisch war bereits 360
eingepackt, und deshalb verloren sie keine Zeit, verließen die Nische und marschierten durch den Schnee. Sie sprachen kurz darüber, ob sie reiten sollten, und Pie schlug Gentle vor, sich zu schonen und von dem Tier tragen zu lassen. Aber Zacharias lehnte ab und meinte, sie dürften nicht riskieren, daß auch dieser Doeki aufgrund von Erschöpfung starb. Doch es dauerte nicht lange, bis er in dem teilweise hüfthoch liegenden Schnee taumelte; zwar hatte sich sein Leib während des Schlafs ein wenig erholt, aber solchen Mühen war er noch nicht gewachsen.
»Wir kommen schneller voran, wenn du reitest«, sagte Pie.
Diesmal zögerte Gentle nicht und vertraute sich dem Doeki an. Er war so müde, daß er kaum gerade sitzen konnte - immer wieder neigte sich sein Oberkörper nach vorn, bis zum Hals des Tieres. Ab und zu hob er den Kopf und blickte sich um, aber die Umgebung änderte sich kaum.
»Müßten wir nicht längst am Paß sein?« murmelte er einmal.
Der Gesichtsausdruck des Mystifs genügte ihm als Antwort -
sie hatten sich verirrt. Gentle richtete sich auf, spähte ins Schneetreiben und suchte nach irgendeinem Ort, der Schutz bot vor dem heulenden Wind. In welche Richtung er auch sah: Überall war die Welt weiß. Sie selbst bildeten die einzige Ausnahme, aber nicht mehr lange. Das Wetter paßte sie langsam der Landschaft an, indem es Eis an ihren Mänteln wachsen ließ und sie mit immer tieferem Schnee konfrontierte.
Bisher hatte Gentle nie ein Scheitern ihrer Bemühungen in Erwägung gezogen und fest daran geglaubt, daß sie nicht sterben konnten, ganz gleich, wie ausweglos die Lage erschien.
Aber jetzt wichen Zuversicht und Optimismus allmählich. Die weiße Welt stahl ihnen die Farbe, bis hin zu ihren bleichen Knochen.
Gentle streckte die Hand nach Pies Schulter aus, schätzte die Entfernung falsch ein und rutschte vom Rücken des Tiers. Als der Doeki plötzlich nicht mehr das Gewicht des Mannes tragen 361
mußte, knickte er in den Vorderläufen ein und kippte zur Seite
- Zacharias wäre vermutlich unter ihm zerquetscht worden, wenn Pie'oh'pah nicht rechtzeitig reagiert und ihn nach vorn gezogen hätte. Gentle schlug die Kapuze zurück, wischte sich Schnee aus dem Nacken, stand auf und begegnete dem Blick des Mystifs.
»Ich bin ganz sicher gewesen, daß ich uns in die richtige Richtung geführt habe...«, sagte Pie.
»Natürlich.«
»Aber vom Paß ist weit und breit nichts zu sehen. Der Hang wird immer steiler. Ich weiß beim besten Willen nicht, wo wir sind, Gentle.«
»Wir sind in Schwierigkeiten. Und wir sind zu müde, um eine Lösung für unser Problem zu finden. Wir müssen ausruhen.«
»Wo?«
»Hier. Dieser verdammte Blizzard kann nicht ewig dauern.
Wenn wir den Weg fortsetzen, bringen wir den Doeki um, und wahrscheinlich auch uns. Vielleicht erstreckt sich weiter vorn eine tiefe Schlucht... Wir haben nur dann eine Chance, wenn wir hierbleiben, zusammen.«
»Ich dachte, ich kenne den Weg.«
»Vielleicht hast du dich gar nicht in der Richtung geirrt.
Vielleicht finden wir uns auf der anderen Seite des Berges wieder, wenn sich der Sturm legt.« Gentle legte dem Mystif die Hände auf die Schultern, tastete
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