Imagica
die Glut unter der Asche und ließ dort eine Flamme hochlodern. Sie erhellte das Gesicht vor Gentle, und der Anblick Pies verbannte ihn aus der Sphäre des Ungeborenen. Die Rückkehr fiel ihm nicht schwer. Der Ort, den er zusammen mit Pie entdeckt hatte, befand sich außerhalb der Zeit, vor dem Verfall geschützt. Und das Gesicht vor ihm war trotz (oder wegen?) seiner Zartheit wunderschön. Pie lächelte und schwieg auch weiterhin.
»Wir sollten jetzt schlafen«, sagte Gentle. »Morgen erwartet uns wieder ein anstrengender Tag.«
Erneut fauchte der Wind, und diesmal trug er Schneeflocken 352
mit sich, blies sie Gentle ins Gesicht. Er zog die Kapuze des Mantels über den Kopf und stand auf, um nach dem Doeki zu sehen: Das Tier hatte sich eine kleine Mulde im Schnee geschaffen und schlief. Als er zum Feuer zurückkehrte - die kleine Flamme fand irgendwo in der Asche Nahrung und verschlang sie gierig -, war auch der Mystif eingeschlafen. Die Kapuze bedeckte einen großen Teil seines Gesichts, und der Rest zeichnete sich sichelförmig in der Dunkelheit ab. Gentle blickte darauf hinab, und etwas Seltsames rührte sich in ihm.
Der Wind stöhnte und ächzte an den Felsen, dazu bereit, sie unter Schnee und Eis zu begraben; das Tal hinter ihnen enthielt Tod und Zerstörung, während eine Stadt voller Grausamkeit das Ziel ihrer Reise darstellte.
Trotzdem war Zacharias glücklich. Er sank neben Pie auf den harten Boden, und als die Benommenheit des Schlafs kam, dachte er an Taylor: Der Kopf des Sterbenden ruhte auf einem weißen Kissen, das sich bei seinen letzten Atemzügen in Schnee verwandelte, während das Gesicht durchsichtig wurde und verschwand. Als sich Gentles Augen schlossen, wechselte sein Selbst nicht in einen Kosmos der Finsternis, sondern schwebte dem Weiß des Sterbebetts entgegen, das nun aus unberührtem Schnee bestand.
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KAPITEL 23
l
Gentle träumte... Der Wind wehte stärker und kälter, brachte Schnee von den hohen Gipfeln der Jokalaylau. Trotzdem erhob sich Zacharias und gab die relative Bequemlichkeit neben der Asche auf. Er streifte Mantel und Hemd ab, ebenso Stiefel und Socken, zog auch Hose und Unterwäsche aus. Nackt schritt er durch die schmale Passage zwischen den Felsblöcken, am schlafenden Doeki vorbei und den frostigen Böen entgegen.
Selbst im Traum spürte er eine Kälte, die bis in sein Mark reichte, doch er ignorierte sie, konzentrierte sich ganz auf den Gletscher. Demütig näherte er sich ihm, mit bloßen Lenden und bloßem Rücken, um den dort leidenden Seelen Respekt zu zollen. Jahrhunderte der Pein lagen hinter ihnen, und das gegen sie verübte Verbrechen war noch immer ungesühnt. Im Vergleich dazu erschien seine eigene Qual unwichtig und bedeutungslos.
Es glühte genug Licht am Himmel, um Gentle den Weg zu zeigen, doch die Schneewüste erstreckte sich endlos vor ihm, und der Wind blies so heftig, daß er mehrmals das Gleichgewicht verlor und fiel. Krämpfe suchten seine Muskeln heim, und er keuchte, schnappte nach Luft. Der stoßweise Atem drang zwischen tauben Lippen hervor, bildete kleine graue Wolken. Er wollte weinen, um den Schmerz aus sich herauszuwaschen, doch die Tränen gefroren, bevor sie über die Wangen rollen konnten.
Zweimal verharrte er, weil er spürte, daß nicht nur Schnee auf dem Rücken des Windes ritt. Er erinnerte sich an Pies Hinweise auf Entitäten, die am Ort des Massakers wachten.
Furcht regte sich in ihm, obgleich er träumte, obwohl er wußte, daß es sich nur um einen Traum handelte. Wenn die Aufgabe 354
jener Wesenheiten darin bestand, Zeugen vom Gletscher fernzuhalten, so würden sie auch Schlafende vertreiben. Und wer in Ehrfurcht kam, so wie Gentle, mußte mit dem besonderen Zorn der Wächter rechnen. Er sah sich in dem Meer aus umherwirbelnden weißen Flocken um, und nach einigen Sekunden glaubte er, eine vage Gestalt zu erkennen: Sie verriet ihre Präsenz nur, weil ihr ätherischer Leib eine Lücke im Schneetreiben schuf - ein aalartiger Körper mit kugelförmigem Kopf. Doch der Schemen verflüchtigte sich sofort wieder, und Gentle konnte nicht sicher sein, ihn wirklich gesehen zu haben. Sein Blick kehrte zum Gletscher zurück, und ein eiserner Wille setzte den Körper in Bewegung, zwang einen Fuß vor den anderen, bis er am Rand der weiten Eisfläche stand. Er hob die Hände zum Gesicht, wischte sich Schnee von Wangen und Stirn, bevor er auf massive Kälte traf.
Die Frauen starrten ebenso zu ihm empor wie vor einigen Stunden, als er
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