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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Es roch nach Farbe und Terpentin; überall lagen 43

    Zigarettenstummel. Zwar sprach er jeden Tag mit Klein, aber bisher hatte er noch keinen konkreten Auftrag erhalten.
    Zacharias verbrachte die Zeit also damit, sich in Form zu bringen, und hatte dabei Chesters Hinweis im Sinn: Er war ein Techniker ohne Visionen, und deshalb stellten die Tage des Wartens eine erhebliche Belastung für ihn dar. Wenn es nicht darum ging, einen bestimmten Stil nachzuahmen, fühlte er sich lustlos und ohne innere Beteiligung; ein moderner Adam, dessen Fähigkeit zur Imitation eine Vorlage fehlte. Er beschloß, sein altes Geschick mit Übungen aufzufrischen, nahm eine große Leinwand und füllte sie mit vier verschiedenen Stilen: der Norden kubistisch, der Süden impressionistisch, der Osten nach van Gogh, der Westen nach Dali. Als Motiv benutzt er Caravaggios Abendessen bei Emmaus. Die Herausforderung verschaffte ihm eine gesunde Ablenkung, und er war noch immer damit beschäftigt, als um halb vier morgens das Telefon klingelte. Es knackte und rauschte in der Leitung, und die Stimme am anderen Ende klang heiser und schmerzerfüllt, doch sie gehörte eindeutig Judith.
    »Bist du's, Gentle?«
    »Ja.« Plötzlich war er froh über die schlechte Verbindung.
    Der Klang von Judes Stimme hatte ihn erschüttert, und davon sollte sie nichts merken. »Von wo rufst du an?«
    »New York. Bin hier einige Tage zu Besuch.«
    »Freut mich, von dir zu hören.«
    »Ich weiß gar nicht, warum ich dich anrufe. Nun, ich habe einen sehr seltsamen Tag hinter mir und dachte...« Sie unterbrach sich und lachte leise. Hatte sie getrunken? »Ich weiß überhaupt nicht, was ich dachte. Wie dumm von mir.
    Entschuldige bitte.«
    »Wann kommst du zurück?«
    »Keine Ahnung.«
    »Treffen wir uns nach deiner Rückkehr?«
    44

    »Lieber nicht, Gentle.«
    »Um zu reden.«
    »Die Verbindung wird immer schlechter. Tut mir leid, daß ich dich geweckt habe.«
    »Du hast mich nicht...«
    »Denk daran, immer warme Sachen zu tragen.«
    »Judith...«
    »Bis dann, Gentle.«
    Ein Klicken - sie hatte aufgelegt. Aber Gentle hörte das Rauschen noch immer, wie in einer großen Muschel. Natürlich nur eine Illusion. Langsam ließ er den Hörer auf die Gabel sinken und wußte, daß es jetzt keinen Sinn mehr hatte, ins Bett zu gehen. Er griff nach neuen Tuben, preßte Farbwürmer heraus und wandte sich wieder der Arbeit zu.
    3
    Ein Pfeifen im Halbdunkel teilte Chant mit, daß seine Flucht nicht unbemerkt geblieben war. Ein solches Pfeifen konnte unmöglich von menschlichen Lippen kommen - ein skalpellscharfes Schrillen, das er nur ein einziges Mal in der Fünften Domäne gehört hatte. Damals, vor zweihundert Jahren, als sein Herr, der Maestro Sartori, ein Phantom aus dem In Ovo beschwor. Das Wesen trieb blutige Tränen in die Augen des Beschwörers und zwang Sartori, es sofort freizugeben. Später sprachen sie über den Zwischenfall, und Chant identifizierte das Geschöpf. In den zusammengeführten Domänen war es als Voider bekannt - eine der gräßlichen Spezies, die in der Ödnis nördlich des Fastenwegs lebten. Sie konnten praktisch jede beliebige Gestalt annehmen, da sie ihre Existenz kollektiven Wünschen verdankten - ein Umstand, der Sartori faszinierte.
    »Irgendwann rufe ich einen anderen«, hatte er gemurmelt.
    »Um mehr von ihm zu erfahren.« Chant meinte, beim nächsten Mal sollten sie besser vorbereitet sein: Voider waren sehr gefährlich und konnten nur von einem außerordentlich 45

    mächtigen Maestro kontrolliert werden. Die zweite Beschwörung fand nie statt, denn Sartori verschwand nur wenige Tage später. Während der nächsten Jahre fragte sich Chant immer wieder, ob sein Herr allein versucht hatte, noch einen Voider zu rufen - um ihm dann zum Opfer zu fallen.
    Vielleicht steckte eines der Wesen dahinter, die Chant nun verfolgten. Zwar waren seit Sartoris Verschwinden zwei Jahrhunderte vergangen, aber Voider - wie die meisten Geschöpfe der anderen Domänen - lebten viel länger als Menschen.
    Er drehte den Kopf, starrte in die Nacht und sah die Gestalt, von der er den Pfiff gehört hatte. Sie wirkte ganz und gar menschlich, trug einen gutsitzenden grauen Anzug mit schwarzer Krawatte. Der Kragen war hochgeschlagen, um vor der Kälte zu schützen, und die Hände ruhten in den Taschen.
    Der ›Mann‹ lief nicht, er schlenderte eher, und das Pfeifen verwirrte Chants Gedanken so, daß er taumelte. Als er sich umwandte, erschien der zweite Verfolger auf dem

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