Imagica
war. Doch die ältere Frau starrte zur Ecke des Turms.
»Was ist denn?« fragte Jude und folgte Claras Blick.
Jemand näherte sich aus der Finsternis, und der Klang seiner Schritte offenbarte eine Lässigkeit, die Judith mit einer Silbe benennen konnte.
»Dowd.«
»Sie kennen ihn?« fragte Clara.
»Ein wenig«, erwiderte Dowd. Auch sein Tonfall drückte Gelassenheit aus. »Aber es gibt viele Dinge, von denen sie nichts weiß.«
Clara ließ Judiths Hand los und unterbrach damit ihre Verbindung.
»Komm nicht näher«, sagte sie leise.
Überraschenderweise blieb Dowd einige Meter von den 489
Frauen entfernt stehen. Im matten Schimmern des blauen Steins sah Judith seine Gesichtszüge: Etwas krabbelte an den Lippen des jungen Mannes - als hätte er sich gerade eine Handvoll Insekten in den Mund gestopft.
»Am liebsten würde ich euch beide umbringen.« Bei diesen Worten entkamen weitere Käfer, krochen über Wangen und Kinn. »Nun, früher oder später sind auch Sie an der Reihe, Judith. Wahrscheinlich früher. Derzeit muß ich mich mit Clara begnügen... Du bist doch Clara, oder?«
»Zum Teufel mit Ihnen, Dowd«, fauchte Jude.
»Treten Sie beiseite«, sagte Godolphins Assistent.
Judith griff nach Claras Arm.
»Sie werden niemandem etwas zuleide tun. Mistkerl!«
In Jude loderte ein Zorn, wie sie ihn seit Monaten nicht mehr gespürt hatte. Der blaue Stein ruhte schwer in ihrer Hand, und sie war bereit, Dowd damit den Schädel einzuschlagen, wenn er keinen sicheren Abstand wahrte.
»Hast du nicht verstanden, Hure?« brummte er und näherte sich. »Ich habe dir befohlen, beiseite zu treten!«
Judith gab ihrer heißen Wut nach, sprang dem Mann entgegen und hob dabei die Hand zum Schlag. Aber als sie Clara losließ, huschte Dowd an ihr vorbei, und sie verlor ihn aus den Augen. Von einer Sekunde zur anderen begriff sie, daß sie sich genau so verhalten hatte, wie es von ihr erwartet worden war. Sie wirbelte um die eigene Achse, wollte zu Clara zurück, doch Dowd erreichte die ältere Frau zuerst. Ein von Entsetzen geprägter Schrei erklang, und Clara taumelte. Käfer krochen auf ihrem Gesicht hin und her, bedeckten die Augen.
Judith eilte zu ihr, um sie zu stützen, doch diesmal wich Dowd nicht etwa aus, sondern wandte sich ihr direkt zu - ein entschlossener Hieb schleuderte der jüngeren Frau den Stein aus der Hand. Sie achtete nicht darauf und hastete zu Clara, die schmerzerfüllt stöhnte und am ganzen Leib bebte.
»Was haben Sie mit ihr angestellt, Dowd?« rief Jude.
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»Ich befreie sie von der Bürde des Lebens. Laß sie los, Hure.
Du kannst ihr jetzt nicht mehr helfen.«
Clara war nicht schwer, aber als die Beine unter ihr nachgaben, sank auch Judith zu Boden. Das Stöhnen verwandelte sich in ein schrilles Heulen, und zuckende Finger tasteten zum Gesicht, schienen die Augen auskratzen zu wollen
- gerade dort stillten die Käfer ihren schrecklichen Appetit.
Verzweiflung erfaßte Jude, und in der Dunkelheit versuchte sie, nach den winzigen Wesen zu greifen und sie fortzuziehen.
Aber entweder waren sie zu schnell für ihre Finger - oder sie hatten sich bereits in den Kopf hineingefressen. Judith konnte nur noch hoffen, daß Claras Qualen möglichst schnell ein Ende fanden.
»Sorgen Sie dafür, daß es aufhört«, sagte sie zu Dowd. »Was auch immer Sie wollen - ich bin einverstanden. Aber sorgen Sie dafür, daß es aufhört. Bitte!«
»Es sind gefräßige kleine Biester, nicht wahr?« erwiderte der junge Mann.
Er hockte vor dem Auge, und das blaue Licht erhellte sein Gesicht, in dem sich nun eine sonderbare, furchteinflößende Strenge zeigte. Judith beobachtete, wie er Käfer aus den Mundwinkeln zog und sie zu Boden fallen ließ.
»Leider haben sie keine Ohren«, sagte er. »Ich kann sie also nicht zurückrufen. Sie sind nur imstande, zu vernichten. Und sie vernichten alles, abgesehen von ihrem Schöpfer - das bin ich. Wenn Ihnen etwas an Ihrem Leben liegt, sollten Sie vorsichtiger sein. Vielleicht halten die Käfer auch Sie für einen Leckerbissen.«
Judith nahm nur unbewußt zur Kenntnis, daß Dowd jetzt wieder zum Sie überging. Ihre Aufmerksamkeit kehrte zu der älteren Frau zurück. Clara versuchte nicht mehr, sich die Augen auszukratzen, und das heftige Vibrieren in ihrem Leib ließ rasch nach.
»Sprechen Sie...«, sagte Jude. Sie beugte sich zu Claras Ge-491
sicht vor und fühlte sich beschämt, daß Dowds Warnung sie mit einer gewissen Unsicherheit erfüllte.
Clara Leash
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