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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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wahrsten Sinne des Wortes das Fundament -, und er wird es herausfinden, wenn die Tabula Rasa ins Wanken gerät. Dann ist völlig unwichtig, was sich jemals zwischen Ihnen abgespielt hat. Wir sind kein anderes Geschlecht, Judith - wir sind eine andere Spezies. In unseren Körpern und Köpfen geschieht etwas völlig anderes als bei den Männern. Wir haben eine andere Hölle, ein anderes Paradies. Wir sind Feinde. Und in einem Krieg kann man nicht auf beiden Seiten stehen.«
    »Es ist kein Krieg«, widersprach Jude. »In einem Krieg wäre ich zornig, und ich bin nie ruhiger gewesen.«
    »Vielleicht sind Sie nicht mehr so ruhig, wenn Sie die bittere Realität in ihrem ganzen Ausmaß kennenlernen.«
    Judith holte noch einmal tief Luft. »Wir haben uns nicht an diesem Ort getroffen, um zu streiten.« Sie begegnete einem gleichzeitig wütenden und traurigen Blick. »Wenn Sie nach einer geeigneten Bezeichnung für mich suchen... Wie wär's mit
    ›sture Ziege‹?«
    »Passivität ist noch schlimmer als Sturheit«, sagte Clara, und in ihrer Stimme schwang ein Hauch von Bewunderung mit.
    »Ich werde daran denken.«
    Dunkelheit hüllte den Turm in einen substanzlosen Schleier, und die Bäume filterten das Licht der Straßenlampen, schirmten es ab. Der Hof erstreckte sich in Finsternis, ebenso der Weg an der Seite des Gebäudes. Offenbar kam Clara nicht zum erstenmal am Abend oder in der Nacht hierher, denn sie bewegte sich mit auffallender Sicherheit. Jude hingegen spürte immer wieder Dornen und Brennesseln, denen sie am Tag mühelos ausgewichen wäre. Als sie den rückwärtigen Teil des Turms erreichten, hatten sich ihre Augen an die Schwärze 487

    gewöhnt: Sie sah, wie Clara etwa zwanzig Meter von der Mauer entfernt stehenblieb und zu Boden starrte.
    »Was machen Sie da?« fragte Jude. »Wir wissen doch, daß es nur einen Eingang gibt.«
    »Der verriegelt und verschlossen ist«, erwiderte Clara.
    »Vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit, in den Keller zu gelangen - ein Belüftungsschacht würde genügen. Nun, zunächst müssen wir Celestines Zelle lokalisieren.«
    »Wie?«
    »Wir benutzen das blaue Auge, das Ihre Seele hierher-getragen hat«, antwortete Clara. »Holen Sie es hervor. Na los...«
    »Ich dachte, es sei zu... verdächtig, um es anzufassen.«
    »Ganz und gar nicht.«
    »Sie haben es voller Argwohn betrachtet.«
    »Weil es sich um Beute handelt, Judith. Das verunsicherte mich. Der blaue Stein ist ein historisches Artefakt aus der Geschichte der Frauen, und daß er sich im Besitz von Männern befand...«
    »Oscar wußte bestimmt nicht, was es damit auf sich hat«, sagte Jude und ahnte, daß diese Worte einer Selbsttäuschung gleichkamen.
    »Die Statue stand in einem großen Tempel...«
    »Und er plündert gewiß keine heiligen Stätten«, fügte Judith hinzu, als sie den rätselhaften Gegenstand ihrer Tasche entnahm.
    »Das behaupte ich auch nicht«, entgegnete Clara. »Die Tempel waren schon lange vorher zerstört worden, bevor der erste Godolphin das Licht der Welt erblickte. Sind Sie nun bereit, mir den Stein zu geben?«
    Judith wickelte den Gegenstand aus und stellte erstaunt fest, wie sehr es ihr widerstrebte, sich davon zu trennen. Er wirkte jetzt nicht mehr unscheinbar: Eine sanfte Lumineszenz ging davon aus, blau und stetig. Das Licht genügte Judith, um 488

    Claras Gesicht zu erkennen.
    Sie sahen sich an, und das Glühen des Auges war wie der Blick eines dritten Verschwörers - einer weiseren, klügeren Frau, deren Präsenz prickelnde Erregung schuf. Das beständige Brummen des Verkehrs schien plötzlich aus einer anderen Welt zu stammen. Judith überlegte, wie viele Frauen sich über Jahrtausende hinweg in einem solchen Licht versammelt hatten, um zu beten, Opfer darzubringen - oder um vor den
    ›Zerstörern‹ geschützt zu sein. Tausende, Millionen... Tot und vergessen waren sie nun, doch in diesem zeitlosen Augenblick kehrten sie aus der Anonymität zurück. Sie erhielten keinen Namen, aber sie fanden die Anerkennung von zwei neuen Akolythen. Jude wandte sich von Clara ab und konzentrierte sich auf das Auge. Die Welt um sie herum verlor plötzlich an Bedeutung. Ihre Konturen verflüchtigten sich in Dunst, der bestenfalls eine Falle war, in der die Seele zappelte - und durch ihr Zappeln das Reale in Frage stellte. Es war nicht mehr nötig, die Regeln jener Wirklichkeit zu beachten; ein Gedanke ge-nügte, um fortzufliegen. Judith sah Clara an, um sich zu vergewissern, daß sie ebenfalls bereit

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