Imagica
es bequem haben.«
Jude dankte ihm für seine Freundlichkeit. Plante sie weitere Ausflüge? fragte er. Sie hatte ihre Story für den kommenden Abend schon vorbereitet, aber Dowds Gebaren überraschte sie immer wieder. Sie befürchtete, daß er ihre Lüge sofort durchschauen würde, und deshalb gab sie eine ausweichende Antwort und meinte, sie wüßte es noch nicht genau.
Godolphin traf erst gegen Mitternacht ein und schlüpfte so behutsam neben ihr ins Bett, wie es seine Körpermasse erlaubte. Sie gab vor zu erwachen, und er entschuldigte sich leise und murmelte einige liebevolle Worte. Mit schläfriger Stimme erwiderte Judith, daß sie am nächsten Abend ihren alten Freund Clem besuchen wolle - hatte Oscar etwas dagegen? Natürlich nicht, meinte er. Solange sie ihren 484
wundervollen Körper für ihn reservierte. Dann hauchte er ihr einen Kuß auf den Hals und schlief ein.
Judith hatte mit Clara vereinbart, daß sie sich um acht Uhr vor der Kirche treffen wollten, doch sie machte sich zwei Stunden vorher auf den Weg, da sie zunächst ihre alte Wohnung aufsuchen wollte. Das blaue Auge erschien ihr noch immer sonderbar und rätselhaft; trotzdem hatte sie sich am vergangenen Abend dafür entschieden, es mitzunehmen: Aus irgendeinem Grund hielt sie es für wichtig, den Stein bei sich zu haben, wenn sie Celestine befreiten.
Die Wohnung fühlte sich kalt und vernachlässigt an. Sie verbrachte dort nur einige Minuten, holte zuerst das Auge aus dem Kleiderschrank und ging dann die Post durch. Im Anschluß daran beherzigte sie Dowds Rat, nahm sich ein Taxi und fuhr nach Highgate. Zwar setzte es sie fünfundzwanzig Minuten zu früh vor der Kirche ab, doch Clara wartete bereits.
»Haben Sie etwas gegessen?« fragte sie. Und als Judith nickte: »Gut. Wir brauchen unsere ganze Kraft.«
»Bevor wir etwas unternehmen, möchte ich Ihnen das hier zeigen«, sagte Jude. »Ich weiß nicht, ob das Ding irgendeinen Nutzen für uns hat, aber Sie sollten es sehen.« Sie entnahm ihrer Handtasche ein kleines Paket. »Sie meinten, Celestine hätte Ihnen Gedanken aus dem Kopf gezupft, erinnern Sie sich?«
»Natürlich.«
»Ich habe ähnliche Erfahrungen hinter mir. Und ich verdanke sie diesem Objekt.«
Judith wickelte das Auge aus und spürte, wie ihre Hände zu zittern begannen. Mehr als drei Monate waren vergangen, seit sie den blauen Stein mit fast abergläubischer Sorgfalt fortgelegt hatte, doch sie entsann sich noch immer in aller Deutlichkeit an die geistige Reise. Instinktiv rechnete sie damit, daß jetzt etwas passieren würde. Aber der Gegenstand lag einfach nur im Tuch und wirkte so unscheinbar, daß Jude fast so etwas wie 485
Verlegenheit empfand. Clara betrachtete ihn und lächelte sanft, fragte aber argwöhnisch:
»Woher haben Sie das?«
»Darüber möchte ich nicht sprechen.«
»Jetzt ist keine Zeit für Geheimnisse«, sagte Clara scharf und wiederholte: »Woher haben Sie das?«
»Mein Mann bekam es. Mein Exmann.«
»Von wem?«
»Er erhielt den Stein von seinem Bruder.«
»Und wer ist sein Bruder?«
Judith holte tief Luft und wußte nicht, ob sie lügen oder die Wahrheit sagen sollte.
»Er heißt Oscar Godolphin«, entgegnete sie.
Clara Leash wich ruckartig einen Schritt zurück, und Entsetzen zeigte sich in ihrem Gesicht.
»Kennen Sie Godolphin?« fragte sie erschrocken.
»Ja.«
»Ist er der Wachhund?«
»Ja.«
»Wickeln Sie es ein!« stieß Clara hervor und meinte das Auge. »Wickeln Sie das Ding ein und verstauen Sie es in Ihrer Tasche.« Mit faltigen, fleckigen Händen strich sie ihr Haar zurück. »Sie und Godolphin?« Die Frau sprach wie zu sich selbst. »Was bedeutet das? Was bedeutet das?«
»Es bedeutet überhaupt nichts«, erwiderte Judith. »Meine Gefühle ihm gegenüber und unsere Absicht haben nichts miteinander zu tun.«
»Sind Sie wirklich so naiv?« Clara musterte Jude.
»Godolphin gehört zur Tabula Rasa und ist ein Mann. Sie und Celestine sind Frauen und seine Gefangenen...«
»Ich bin nicht gefangen.« Judith ärgerte sich über Claras Verachtung. »Ich kann ganz nach Belieben handeln.«
»Bis Sie ihm in die Quere kommen«, sagte Clara. »Dann stellt sich Ihre ›Freiheit‹ als Farce heraus.« Sie trat wieder 486
näher, und ihre Stimme wurde zu einem beschwörenden Flüstern. »Geben Sie sich keinen Illusionen hin. Sie können nicht Celestine retten und sich Godolphins Zuneigung bewahren. Damit würden Sie das Fundament seiner Familie und seines Glaubens erschüttern - im
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