Imagica
antwortete nicht - oder verbargen sich Worte im leisen Ächzen der Sterbenden? Judith lauschte und hoffte, irgend etwas Sinnvolles zu verstehen, doch das Stöhnen blieb völlig unverständlich. Dann lief ein Schauder über Claras Rücken, als etwas in ihrem Kopf zu zerbrechen schien - und sie rührte sich nicht mehr. Kaum anderthalb Minuten waren vergangen, seit Dowd aus der Nacht getreten war - Zeit genug, um alle mit dem Turm verbundenen Hoffnungen zu zerschmettern. Jude fragte sich, ob Celestine diese Tragödie irgendwie miterlebt hatte und dadurch noch mehr litt als vorher.
»Das war's - sie ist tot«, sagte Dowd. Judith ließ Claras Leiche ins Gras sinken. »Wir sollten jetzt gehen«, fuhr der junge Mann fort, und seine Stimme klang so entspannt, als verkündete er das Ende eines Picknicks. »Was Clara betrifft...
Seien Sie unbesorgt. Ich kümmere mich später um ihre sterblichen Überreste.«
Judith vernahm das Geräusch seiner Schritte und stand abrupt auf, um zu vermeiden, von ihm berührt zu werden.
Noch immer brummte ferner Verkehr, und ein Düsenflugzeug zischte über den dunklen Himmel. Jude blickte zum Auge, aber es war ebenso tot wie Clara.
»Zerstörer«, sagte sie.
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KAPITEL 28
l
Gentle hatte das vereinbarte Gespräch mit Aping im Hinblick auf das gemeinsame Interesse an der Malerei ganz vergessen -
im Gegensatz zu N'ashaps Stellvertreter. Am Morgen nach der Heirat in Athanasius' Zelle kam der Sergeant, um Zacharias zu holen und ihn zu einer Kammer in einem anderen Flügel des ausgedehnten Gebäudekomplexes zu bringen. Jenes Zimmer hatte er in ein Atelier verwandelt: Es wies mehrere Zimmer auf, und deshalb war das Licht so gut, wie es ein fast immer bewölkter Himmel zuließ. Im Verlauf der letzten Monate hatte Aping hier fleißig gearbeitet, doch das Ergebnis seiner Bemühungen deutete auf einen Dilettanten hin, der sich durch einen eklatanten Mangel an Inspiration auszeichnete. Den Gemälden fehlte Struktur, und auf den ersten Blick war zu erkennen, daß der Maler nie ein Gefühl für Farbe entwickelt hatte. Der einzige interessante Aspekt präsentierte sich in Form einer Besessenheit. Aping nannte stolz die Anzahl seiner Bilder
- insgesamt einhundertdreiundfünfzig -, und nie änderte sich etwas am Motiv. Immer ging es um die Tochter Huzzah. Wenn bei anderen Gelegenheiten jemand den Namen des Kindes nannte, so reagierte Aping stets mit ausgeprägtem Unbehagen, und im Atelier erklärte er nun den Grund dafür: Seine Tochter sei noch sehr jung, meinte er, und ihre Mutter tot; er hatte sie hierher mitnehmen müssen, als er von Iahmandhas zur Wiege abkommandiert worden war.
»Ich konnte sie nicht in L'Himby lassen«, sagte Aping. »Wer weiß, was ihr dort zugestoßen wäre. Sie ist doch noch ein Kind.«
»Huzzah befindet sich also hier auf der Insel?« fragte Gentle.
»Ja. Aber tagsüber bleibt sie immer in ihrem Zimmer. Weil 493
sie fürchtet, sich mit dem Wahnsinn anzustecken. Ich liebe sie sehr. Ein schönes Mädchen, wie Sie hier sehen können.« Aping deutete auf die Bilder.
In den Gemälden ließ sich keine Spur von Ästhetik entdecken; es blieb Gentle also nichts anderes übrig, als allein dem Wort des Vaters zu vertrauen. »Wo ist sie jetzt?«
erkundigte er sich.
»In ihrem Zimmer«, sagte Aping. »Sie verläßt es fast nie.
Manchmal hat sie seltsame Träume.«
»Ich weiß, wie man sich dabei fühlt«, murmelte Gentle.
»Tatsächlich?« In Apings Stimme erklang ein Eifer, der eine Botschaft vermittelte: Er hatte Gentle nicht in dieses Zimmer geführt, um nur über Malerei zu sprechen. »Träumen Sie ebenfalls?«
»Alle träumen.«
»Das sagte auch meine Frau.« Etwas leiser fuhr Aping fort:
»Sie hatte prophetische Träume. Sie wußte, wann sie sterben würde, kannte nicht nur den Tag, sondern auch die Stunde.«
Kurzes Zögern. »Aber ich träume nicht. Und deshalb bin ich außerstande, Huzzahs Empfindungen zu teilen.«
»Glauben Sie, ich sei dazu in der Lage?«
»Es ist eine heikle Angelegenheit«, sagte Aping. »Die yzordderrexianischen Gesetze verbieten Propheten.«
»Das wußte ich nicht.«
»Insbesondere Prophetinnen«, betonte der kummervolle Vater. »Das ist der wahre Grund, warum Huzzah immer in ihrem Zimmer bleibt. Ja, sie fürchtet den Wahnsinn - aber ich fürchte mich noch viel mehr vor dem, was sich in ihr verbirgt.«
»Warum?«
»Wenn sie Gelegenheit bekäme, mit jemand anderem zu sprechen..., dann rutschte ihr vielleicht etwas heraus. Und dann
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