Imagica
entfernt.
»Schwester?« fragte sie.
Dowd sah sich um, und Judith zögerte nicht, nutzte die gute Gelegenheit und lief los. Er fluchte, als sie floh, und die Blinde sprang ihm entgegen und schlang ihm die Arme um den Hals.
Dabei gab sie ein Geräusch von sich, das Judith noch nie zuvor von menschlichen Lippen gehört hatte: ein Schrei, der Knochen wie Glas splittern lassen konnte, der die Luft 686
erstarren ließ. Sie war froh, schon ein Dutzend Meter zurückgelegt zu haben - andernfalls wäre sie jetzt vielleicht auf die Knie gesunken.
Einmal sah sie zurück und beobachtete, wie Dowd einen Käfer nach Quaisoirs leeren Augenhöhlen spuckte. Jude hoffte inständig, daß ihre Schwester dem gräßlichen Tod nicht ebenso hilflos ausgeliefert war wie der Mann, der ihr die Augen ausgestochen hatte. Was auch immer jetzt geschah: Judith konnte der anderen Frau kaum helfen. Sie mußte in erster Linie an ihre eigene Sicherheit denken, damit wenigstens eine von ihnen beiden überlebte.
Sie hastete um die erste Ecke, setzte die Flucht anschließend durch verschiedene Gassen fort und wählte immer wieder neue Richtungen, um möglichst viel Distanz zwischen sich und den Verfolger zu bringen. Sie zweifelte nicht daran, daß Dowd recht hatte: Bestimmt kannte er sich in diesem Teil der Stadt wirklich gut aus. Woraus folgte: Judith mußte ein anderes Viertel erreichen, das ihm ebensowenig vertraut war wie ihr; nur dann konnte sie hoffen, tatsächlich zu entkommen. Bis dahin... Sei schnell und so unsichtbar wie ein Schatten, dachte sie. Wie der Schatten, mit dem Dowd sie verglichen hatte.
Dunkelheit in Finsternis; ohne Substanz, ungreifbar; in der einen Sekunde erblickt und in der nächsten verschwunden.
Doch ihr Körper verweigerte den Gehorsam, war müde und mußte Schmerzen ertragen. Zwei Feuer brannten in ihrer Brust, eines in jedem Lungenflügel. Irgend etwas riß ihr die Haut von den Füßen, verursachte dort blutige Wunden. Trotzdem lief Judith weiter, bis die Straßen mit den kleineren Theatern und Bordellen hinter ihr zurückblieben, bis sie einen Ort erreichte, der wie die Bühne für ein Trauerspiel von Pluthero Quexos wirkte: ein hundert Meter durchmessender Kreis, gesäumt von einer Mauer aus schwarzen, glatten Steinen. Die hier züngelnden Flammen zerstörten nicht wie in anderen Bereichen von Yzordderrex, sondern leuchteten dutzendfach 687
auf dem Wall. Ihr Licht flimmerte über ein Pflaster, das sich einer Öffnung in der Mitte entgegenneigte. Im Hinblick auf den Zweck dieser Anlage konnte Judith nur spekulieren. Handelte es sich vielleicht um einen Zugang zu Katakomben? Oder um einen Brunnen? Überall sah sie Blumen. Zahllose verwelkte und halb verfaulte Blütenblätter bildeten eine schmierige Schicht auf dem Boden; während Judith sich dem Loch näherte, mußte sie auf jeden Schritt achten, um nicht auszurutschen. Dabei wuchs ein Verdacht in ihr. Wenn dies ein Brunnen ist, ging es ihr durch den Kopf, so ist sein Wasser vom Tod vergiftet. Namen, Datumsangaben, kurze Mitteilungen und sogar primitive Illustrationen waren ins Pflaster gemeißelt worden, und die Anzahl dieser Nachrufe wuchs, je näher Jude der Öffnung kam. Auch an den Innenwänden des Schachtes zeigten sich gekritzelte Zeichen - sie stammten von besonders mutigen oder verzweifelten Trauernden.
Das Loch übte die gleiche Faszination aus wie ein Klippenrand, aber Judith widerstand der Versuchung, in die Tiefe zu starren, und blieb etwa zwei Meter vor der Öffnung stehen. Sie nahm einen unangenehmen Geruch wahr, der jedoch nicht zu Übelkeit führte: Entweder hatte man den Schacht schon seit einer ganzen Weile nicht mehr benutzt, oder er war sehr tief.
Jude hob den Kopf und suchte nach einem Ausgang aus dem Mauerkreis. Es gab insgesamt acht - neun, wenn man die Öffnung im Boden mitzählte -, und wandte sich zuerst der Straße direkt gegenüber zu. Rauchschwaden wallten dort durch die Dunkelheit, und vielleicht hätte Judith diesen Weg eingeschlagen, doch weiter vorn deuteten Umrisse auf eine Barrikade aus Schutt hin. Sie lief zur nächsten Straße, die ebenfalls blockiert war; Feuer brannten zwischen Balken. Als sie sich dem dritten Portal zuwenden wollte, hörte sie Dowds Stimme und wandte sich um. Er stand auf der anderen Seite des Schachtes, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, und wirkte 688
wie ein Vater, der seine Tochter bei etwas Verbotenem ertappt hatte.
»Ich hab's dir doch gesagt«, brummte er. »Ich kenne diese
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