Imagica
Messer ab - andernfalls 678
wäre Jude versucht gewesen, Quaisoir hier und jetzt von ihren Illusionen zu befreien.
»Sag mir, wer du bist, Tochter«, murmelte Dowd.
»Du weißt genau, wer sie ist, verdammt!« knurrte der Mann.
»Quaisoir! Die dreimal verfluchte Gemahlin des Autokraten!«
Dowd sah Judith an. In seinem Gesicht zeigte sich kein Erstaunen, sondern plötzliche Erkenntnis. Nach einigen Sekunden blickte er den Mann mit der Klinge an.
»Mag sein«, sagte er leise.
»Du weißt sicher, welche Verbrechen sie begangen hat«, fauchte der Bewaffnete. »Sie verdient Schlimmeres.«
»Schlimmeres?« wiederholte Dowd. Er näherte sich dem Mann, der immer nervöser wurde, und das Messer von einer Hand in die andere nahm. Er schien sich auf seine Verteidigung vorzubereiten - und spürte vielleicht, daß die Gestalt ihm gegenüber noch viel grausamer sein konnte als er.
»Was meinst du mit schlimmer?« fragte Dowd.
»Zum Beispiel das, was sie mit anderen Personen angestellt hat, und zwar nicht nur einmal.«
»Glaubst du, sie ist persönlich daran schuld?«
»Das halte ich nicht für unmöglich«, sagte der Mann. »Wer weiß schon, was da oben vor sich geht? Leute verschwinden, und anschließend kehren sie stückchenweise zurück...« Er lächelte schief und unsicher. »Du weißt, daß sie es verdient hat.«
»Und du?« hakte Dowd nach. »Was verdienst du?«
»Ich behaupte nicht, ein Held zu sein«, entgegnete der Mann mit dem Messer. »Ich meine nur... Sie hat so etwas heraus-gefordert.«
»Ich verstehe«, sagte Dowd.
Zwar stand Judith nicht weit entfernt, aber Dowd kehrte ihr den Rücken zu, und deshalb konnte sie nicht genau sehen, was geschah. Der Mann mit der Klinge wich einen Schritt zurück, und sein Gesicht verzog sich plötzlich vor Abscheu - dann 679
sprang er vor, um Dowd das Messer ins Herz zu stoßen. Sein Angriff brachte ihn in Reichweite der Käfer, und er bekam keine Gelegenheit, von seiner Waffe Gebrauch zu machen. Ein entsetzter Schrei entrang sich seiner Kehle, und er hob die freie Hand zum Gesicht. Was jetzt passierte, hatte Jude schon einmal beobachtet. Der Mann tastete nach Augen, Nase und Mund, und die Beine gaben unter ihm nach, als sich die Käfer durch seinen Körper fraßen. Vor Dowd sank er zu Boden, rollte hin und her und rammte sich schließlich die Klinge in den Mund; er stach nach den winzigen Ungeheuern, die ihn umbrachten. Die Kraft des Lebens verließ ihn schnell, und die Hand sank herunter, ließ das Messer im Mund zurück - es sah aus, als sei er daran erstickt.
»Es ist vorbei«, sagte Dowd zu Quaisoir. Sie hatte die Arme um ihren Oberkörper geschlungen und lag mehrere Meter von dem Toten entfernt auf dem Pflaster. »Er wird dir nie wieder Schmerzen zufügen.«
»Danke, Herr.«
»Jene Verbrechen, die er dir zur Last legte...«
»Ja.«
»Es sind sehr schwere Vorwürfe.«
»Ja.«
»Bist du tatsächlich schuldig?«
»Ja, das bin ich«, antwortete Quaisoir. »Ich möchte meine Sünden beichten, bevor ich sterbe. Hörst du mich an?«
»Selbstverständlich.« Dowd gab sich großzügig.
Bisher hatte sich Judith darauf beschränkt, alles nur zu beobachten, doch jetzt setzte sie sich in Bewegung, trat zu Quaisoir und ihrem Beichtvater. Dowd hörte ihre Schritte, drehte sich halb um und schüttelte den Kopf.
»Ich habe gesündigt, o Herr«, sagte Quaisoir. »Ich habe oft gesündigt. Bitte vergib mir.«
Die Verzweiflung in ihrer Stimme - und nicht Dowds stumme Warnung - war es, die Judith daran hinderte, sich zu 680
erkennen zu geben. Wenn Quaisoir so sehr an ihrer Schuld litt und sich nichts mehr wünschte, als Zwiesprache mit jemandem zu halten, der ihr verzieh... Welches Recht hatte Jude, ihr einen solchen Trost vorzuenthalten? Dowd war nicht Christus, aber wenn sie jetzt die wahre Identität des Beichtvaters verriet, so verstärkte sie nur den Kummer ihrer Schwester.
Dowd kniete neben Quaisoir nieder und hielt sie in den Armen. Es verblüffte Judith, daß er fähig war, so sanft und zärtlich zu sein - oder wenigstens ein derartiges Verhalten so gut nachzuahmen. Quaisoir lächelte glücklich, trotz ihrer Wunden. Sie klammerte sich an Dowds Jacke fest und dankte ihm immer wieder für seine Barmherzigkeit. Er tröstete und beruhigte sie und meinte mehrmals, es sei nicht nötig, daß sie ihm alle ihre Verbrechen nenne.
»Du trägst sie in deinem Herzen, und dort sehe ich sie«, sagte er. »Ich verzeihe dir. Und jetzt... Erzähl mir von deinem Mann. Wo
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